Industrie unter Druck

Wie Contis Werk Vahrenwald um seine Zukunft kämpft

Veröffentlicht Geändert
Alte Backsteingebäude im Conti-Werk Vahrendwald Hannover
Mehr Brownfield geht nicht: Die alten Gemäuer vom Conti-Werk in Vahrenwald.

2.100 Mitarbeitende, 32 Gebäude, über 30 Millionen Riemen im Jahr: Das ContiTech-Werk Vahrenwald stemmt den Konzernumbau mit Automatisierung und harten Effizienzprogrammen – ein Ortsbesuch in unruhigen Zeiten.

Die alten Backsteinfassaden atmen Industriegeschichte. Aus den Schornsteinen an den Wänden steigt Dampf, in den Treppenhäusern ist es warm wie in einem Wintergarten, und der Geruch von Kautschuk liegt schwer in der Luft. Hinter einer einzigen, schmalen Werkszufahrt zieht im Minutentakt der Lkw-Verkehr vorbei. Mitten in Hannover, zwischen Wohnhäusern und Stadtbahnlinie, läuft im Conti-Werk Vahrenwald ein Stück deutscher Industrie im Hochbetrieb.

Während Continental den tiefsten Umbau seiner Geschichte wagt, arbeitet Vahrenwald am Beweis, dass sich schweres Gewerbe und Großstadt vereinen lassen. Am 18. September will der Konzern seine Autozuliefersparte als Aumovio an die Börse bringen – ein Schritt zurück zu den Wurzeln als Reifenhersteller und zugleich ein Schnitt durch vertraute Strukturen. „Das ist die tiefgreifendste Neuaufstellung“, heißt es aus dem Vorstand, verbunden mit einem harten Sparkurs, zehntausenden wegfallenden Stellen und der Hoffnung auf neue Kräfte durch mehr Fokussierung. Für die Werke bedeutet das: jede Schraube, jeder Takt, jedes Prozent Ausschuss wird zur Standortfrage.

Das ContiTech Werk Vahrenwald

ContiTech
ContiTech
ContiTech
ContiTech
ContiTech

Stadtlage erschwert die Produktion

Vahrenwald ist der größte Standort der ContiTech-Sparte. Rund 2.100 Menschen fertigen hier Antriebsriemen und Luftfederelemente, dazu Industriekomponenten wie Rohrverbinder und Metallgummiteile. „Alles, was Dämpfung und Antrieb betrifft, passiert hier am Standort“, sagt Werkleiter Fabian Lindner. Das Ersatzteilgeschäft mit kompletten Kits trägt ein beträchtliches Volumen, weil Werkstätten damit Riemen und Metallteile in einem Zug tauschen können. Pkw-Luftfedern – bislang auch für Oberklassemodelle – laufen noch in Hannover, sollen aber bis Ende 2026 nach Tschechien verlagert werden.

Der Standort wirkt wie eine Stadt in der Stadt: 32 Gebäude, knapp 190.000 Quadratmeter, Produktion bis in den vierten oder fünften Stock, die Bahnlinie gleich dahinter. „Heute würde man ein Werk so nicht mehr bauen“, sagt Lindner, „aber wir arrangieren uns und wir sind stolz, dass es aus der Nachbarschaft kaum Beschwerden gibt.“ Abluftanlagen stehen aus Lärmschutzgründen nicht draußen auf dem Hof, sondern stecken – schwer gedämmt – in den Gebäuden, manche wurden per Kran durchs Dach eingehoben. Ordnung und Sauberkeit sind hier mehr als eine Visitenkarte. „Wenn die Wohnung nicht aufgeräumt ist, sucht man sich zu Tode. Genau so ist es in der Fabrik“, sagt Lindner.

Voller Fokus auf die Automatisierung

Der Druck kommt von außen und innen. Vahrenwald konkurriert bei Riemen mit Rumänien, bei Luftfedern mit Ungarn und der Türkei. „Unsere einzige Chance ist, Prozesse so zu automatisieren, dass wir mithalten“, sagt Lindner. In der Luftfederfertigung zeigt eine neue „Fastzelle“, was das heißt. Trägergewebe und Zwischenlagen werden automatisch zugeschnitten, auf das Werkzeug aufgewickelt, Zukaufteile seitlich fixiert. Ein Roboter holt den Rohling ab, speist ihn in die Vulkanisationspresse und übergibt an eine automatische Putzmaschine, die den Grad entfernt. Erst am Ende nimmt ein Mitarbeiter die Sicht- und Maßkontrolle vor und gibt frei für die Endmontage, in der Kolben und Bördelplatte aufgesetzt werden.

„Wir nennen das eine Insel“, erklärt Curtis Patterson aus der Prozess- und Industrialisierungsmannschaft. „Früher brauchten wir drei Leute, jetzt laufen wir übergangsweise mit zwei. Ziel sind ein Mitarbeiter pro Schicht und ein Takt unter einer Minute.“ Das System mit Scannern und Fertigungssteuerung prüft an jeder Station Auftrag, Material und Zeitpunkt, die Rückverfolgbarkeit ist lückenlos. „488 Einheiten in siebeneinhalb Stunden – das ist das Ziel“, sagt Patterson. Der Bereich ist stark ausgelastet, insbesondere für Nutzfahrzeuganwendungen. Noch während die erste Insel anlief, begannen die Techniker, die zweite identisch umzubauen.

Einen klaren Effekt der E-Mobilität sehen wir hier noch nicht. Wir glauben an den Verbrenner.

Fabian Lindner, Werkleiter

Beißender Gummigeruch trifft Arbeitssicherheit

Ein Hallenabschnitt weiter, in der Keilrippenriemen-Fertigung F7, beginnt der Zyklus an der Trommel, auf der die Lagen aufgebaut werden. Das, was dort als Schlauch von der Trommel läuft, wandert in den Vulkanisationskessel und kommt als fester Körper zurück. „Hier ist der Unterschied zu den Zahnriemen, bei denen die Zähne längs liegen“, erläutert Lindner vor den Maschinen. Puffer sorgen dafür, dass Konfektion, Vulkanisation und die nachgelagerte Qualitätsprüfung entkoppelt bleiben. Die Messmaschine schneidet, misst und bewertet automatisch, Ausschuss wird direkt ausgeschleust, auf Bildschirmen wird jede Abweichung visualisiert. Verpackt wird so, wie es der Kunde vorgibt – vom Standardlagergebinde bis zur Box, in die exakt eine Lage Riemen passt.

Nach einem Gang über den Werkshof bekommt man in der nächsten Halle den Ursprung zu sehen. Aufgestapelte Rollen aus schwarzem Walzgut, schwere Extruder, Kalander, die Gummimischungen auf Breite und Dicke bringen. Die Mischungen kommen aus den ContiTech-Zentren in Stöcken und Hamburg. Natur- und Synthesekautschuk, Ruß und weitere Zutaten werden geknetet und gewalzt, zu Rollen gewickelt und mit Folie getrennt, damit nichts verklebt. Der Geruch hängt im Raum, doch die Messwerte bleiben im Rahmen. „Arbeitssicherheit hat Priorität eins“, sagt Lindner. „Wir lassen permanent messen und optimieren die Mischungen.“

Ein paar Treppen höher liegt die Welt der Gummizahnriemen. Was wie viele Maschinen wirkt, ist in Wahrheit eine einzige, langgestreckte Anlage. Extrudierte Platten, Gewebe und Zugstränge werden auf metallische Formen gewickelt, deren Zähne das Negativ des späteren Riemenprofils bilden. Hinter Plexiglastüren laufen Vulkanisationen unter Druck und Temperatur. „Wie beim Reifen“, sagt Lindner. Danach kommt der Wickel in die automatischen Stationen, wo er zugeschnitten, auf Länge, Zahnhöhe, Breite und Rundlauf vermessen und verpackt wird. Data-Matrix-Codes sichern die Nachverfolgung bis auf Werkzeug und Zeitpunkt. Trotz der Automatik bleibt es ein Mensch-Maschine-System. „Ideal sind drei Personen pro Schicht“, so Lindner. „Mit zweien geht es, aber die Ausbringung leidet. Läuft alles störungsfrei, schaffen wir in einer Schicht rund hundert Wickel.“

E-Mobilität bereitet keine Sorgen

Die Spannweite des Portfolios zeigt sich an den Formen: vom kleinsten Riemen mit rund zehn Zentimetern Umfang bis zu Serien mit 4.850 Millimetern, ein Pilot mit 5.700 Millimetern läuft bereits an. Anwendungen reichen vom Automatenbau über Werkzeugmaschinen bis zu Lackierkabinen, in denen an den Riemen keinerlei Farbe haften darf. „Am Ende sind wir diejenigen, die das breiteste Spektrum abbilden“, sagt Lindner. Bei den langen Gummizahnriemen liegt der Automotive-Anteil bei etwa dreißig Prozent, der Rest verteilt sich aufs Ersatzteilgeschäft und Industrie. Die Stückzahlen schwanken enorm: Im Landmaschinenbereich liegen sie im niedrigen vierstelligen Bereich pro Monat, für Spezialanwendungen können es zwanzig- bis dreißigtausend sein – oder nur hundert im Jahr.

Im Industriebereich liefern die Hannoveraner nicht selten den Wickel und schneiden bei Bedarf in kleinen Abrufen nach. Über 30 Millionen Riemen verlassen pro Jahr den Standort, von Gummizahn- bis Keilrippenriemen, dazu Industriewaren. Die Gesamtmenge ist zuletzt etwas gesunken, nicht wegen der Elektromobilität, sondern weil Volumina in kostengünstigere Regionen abgewandert sind. „Einen klaren Effekt der E-Mobilität sehen wir hier noch nicht“, sagt Lindner. „Und wir glauben an den Verbrenner.“ In den Hallen klingt das mehr nach nüchternem Pragmatismus als nach Parole.

Der Alltag des Werkleiters spiegelt die Taktung der Produktion. Früher Morgen, dann die Runden durch die Hierarchien, um 9.30 Uhr die Leitungsrunde: Ausschuss, Mengen, Sicherheit, besondere Vorkommnisse der letzten 24 Stunden. „Das Wichtigste ist Transparenz“, sagt Lindner. „Durch Kennzahlen und Gespräche wissen wir, ob das Werk auf Kurs ist.“ Dazwischen Termine mit der Business Area und immer wieder Besuch, vom Vorstand bis zur lokalen Politik. Heiko Dommes , der das Change Management verantwortet, bringt es auf den Punkt: „Wir müssen permanent effizienter werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben.“

Auch das Umfeld prägt den Tag. Die Schienen direkt am Rand der Gemäuer dienen nicht als Logistiktor, machen aber jede Fassadenarbeit aufgrund komplizierter Absprachen mit der Deutschen Bahn zur Geduldsprobe. Die eine Lkw-Zufahrt ist Nadelöhr und Herzschlag zugleich, koordiniert von einem Team auf dem Hof. Und wenn die Sonne durch die alten Fenster brennt, müssen Sonnenschutzfolien helfen, eine Klimaanlage ist hier nicht denkbar. Die Fabrik ist ein lebender Organismus.

KI steckt noch in der Kinderschuhen

Beim Thema Digitalisierung tastet sich Vahrenwald pragmatisch voran. „Wir stehen am Anfang“, sagt Lindner über KI-Anwendungen. Eine kamerabasierte Wickelkontrolle soll Fehler automatisch erkennen und aus Erfahrungen lernen, die Schichtplanung soll künftig automatisch qualifikationsgerecht besetzen. „Beim Ausschuss und bei der Qualifikation sind wir in Europa Benchmark“, sagt Lindner. Tägliche Ausschussrunden, standardisierte Schulungen und eine Qualifikationsabteilung beschleunigen das Hochfahren neuer Mitarbeitender. Energie sparen die Hannoveraner mit gedämmten Leitungen, neuen Entlüftungen und viel Isolierung; statt Klimaanlagen erprobt das Werk Kühlwesten für die Belegschaft.

Zwischen den dampfenden Schornsteinen an den Fassaden und den digital getakteten Linien im Innern wird sichtbar, was der Konzernumbau in der Fläche bedeutet. Vahrenwald antwortet mit Automatisierung, Standardisierung und enger Zusammenarbeit der Werke. „Wir tauschen uns regelmäßig aus“, sagt Lindner. „Kollegen aus Rumänien waren hier, hatten Probleme mit einem Riemen. Wir haben ihnen gezeigt, wie wir es machen. Dazu gibt es keine Alternative.“

So wird das Werk in Hannover zu einem Brennglas der Transformation: verwurzelt in Backsteinbauten und Kautschuk, getrieben von Kennzahlen und Taktzeiten, offen für Robotik und Automatisierung. Die Zukunft des Konzerns entscheidet sich an der Börse und in Strategiepapieren. Die Zukunft von Vahrenwald entscheidet sich an Linien wie der Fastzelle und in Hallen, in denen der Dampf an der Backsteinwand kondensiert.