In fünf hochautomatisierten Fabriken entstehen auf 31.000 Quadratmetern moderne Elektronikkomponenten für den weltweiten Einsatz – von Radarsensoren bis zu Steuergeräten.(Bild: Hella / Braun Media)
Mit dem Forvia Excellence System (FES) verankert Hella in Hamm Lean-Prinzipien, Digitalisierung und Eigenverantwortung in der Produktion. Das Werk agiert als Leitwerk, treibt globale Standards voran – und zeigt, wie Exzellenz zur Kultur wird.
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Im westfälischen Hamm betreibt der Automobilzulieferer Hella einen seiner größten Elektronikstandorte weltweit. Er wurde bereits 1961 als vierter deutscher Standort des Zulieferers gegründet und trägt intern daher passenderweise den Namen „Werk 4”. Seither gehört er zum Rückgrat der Elektronikproduktion des Unternehmens. Rund 900 Mitarbeitende arbeiten in fünf hochautomatisierten Fabriken auf einer Shopfloor-Fläche von rund 31.000 Quadratmetern. Die Produktpalette reicht von DC/DC-Wandlern und Radarsensoren über Funkschlüssel bis hin zu Steuergeräten für die Servolenkung. Werkleiter Matthias Mühlenbrock, der 1996 seine Ausbildung zum Elektriker bei Hella in Recklinghausen begann, blieb dem Zulieferer bis heute treu und verantwortet den Standort in Hamm seit Oktober 2024.
Als Lead Plant für verschiedene Schlüsseltechnologien wie Radarsensorik und Funkschlüssel unterstützt Hamm seit Jahren den globalen Technologietransfer innerhalb des Forvia Hella-Verbunds. Hamm hat bereits erfolgreich Fertigungen für Radarsensoren, Funkschlüssel und andere Komponenten nach Asien, Nordamerika und Osteuropa exportiert. „Unsere Ingenieure und Ingenieurinnen reisen für ein bis zwei Jahre in die Werke vor Ort, installieren dort die Linien, schulen die Mitarbeitenden und helfen beim Hochlauf“, erklärt Mühlenbrock.
Das Werk ist intern in fünf sogenannte „Fabriken“ gegliedert – eigenständige Produktionseinheiten, die wie kleine Unternehmen im Unternehmen agieren: mit eigener Ergebnisverantwortung, eigenen KPIs und einem Fokus auf Kompetenzzentren. So produziert Fabrik 1 Produkte für das Energiemanagement wie DC/DC-Converter, etwa für 48-Volt-Bordnetze in Hybrid- und Elektrofahrzeugen sowie Batteriesensoren, die unter anderem Start-Stopp-Systeme ermöglichen. Fabrik 2 kümmert sich um Karosserieelektronik, beispielsweise Funkschlüssel in unterschiedlichen Ausführungen – von serienmäßigen Varianten bis zu Sonderanfertigungen mit Lederapplikationen.
Das Herzstück der Fabrik 3 bilden Radarsensoren, während Fabrik 4 für die komplexe Leiterplattenbestückung zuständig ist – als interner Lieferant der übrigen Linien. Zu guter Letzt werden in Fabrik 5 Steuergeräte für elektrische Servolenkungen und andere Komponenten wie das „Anhängeranschlussgerät“ gefertigt – ein Bauteil, das durch den Fahrrad- und E-Bike-Boom stark nachgefragt wird, da viele Autos mittlerweile serienmäßig mit Anhängerkupplungen ausgestattet sind.
„Das ist aus meiner Sicht ein sehr guter Ansatz, weil wir damit etwas fördern, das uns bei Hella besonders wichtig ist: unternehmerisches Denken“, erklärt Mühlenbrock die interne Aufteilung in fünf eigene Fabriken. „Wir verfolgen bewusst einen Führungsstil, der auf Empowerment setzt – also auf das gezielte Übertragen von Verantwortung. Gleichzeitig schaffen wir klare Entscheidungsräume, in denen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigenständig handeln und Verantwortung übernehmen können.“
Werkleiter Matthias Mühlenbrock treibt in Hamm die Umsetzung des Forvia Excellence Systems mit Fokus auf Eigenverantwortung und Lean-Kultur voran.(Bild: Hella)
FES als neues Rückgrat der globalen Produktion
Über seine Leitwerkfunktionen hinaus setzt der Standort in Hamm auch auf das sogenannte Forvia Excellence System (FES) – ein Exzellenzsystem für die gesamte Forvia-Gruppe, zu der Hella seit Anfang 2022 gehört, und eines der wichtigsten Synergieprojekte innerhalb der Forvia-Gruppe. Das FES steht in der Tradition des Toyota Produktionssystems (TPS), das als Ursprungmoderner Lean-Philosophie gilt. Weltweit hat der TPS-Ansatz Maßstäbe gesetzt mit Just-in-Time-Prinzipien, verschwendungsfreier Fertigung und einer starken Einbindung der Mitarbeitenden in kontinuierliche Verbesserungsprozesse. Viele Unternehmen haben diesen Ansatz adaptiert, doch selten gelingt es, ihn über bloße Methodenanwendung hinaus in die Unternehmenskultur zu übertragen. Genau hier setzt das FES an. Es versteht Lean nicht als Kopiervorlage, sondern als Impuls für ein System, das gezielt auf das eigene Unternehmen zugeschnitten ist. Dabei geht es nicht nur um die Anwendung bekannter Prinzipien, sondern um deren nachhaltige Verankerung im täglichen Handeln über alle Ebenen und Funktionsbereiche hinweg.
Projektleiter Sven Seibert beschreibt das FES als das Ergebnis einer ambitionierten Zusammenführung zweier Ansätze zur Produktionsstandardisierung und Verankerung des LEAN-Gedankens: dem Hella Production System und dem Faurecia Excellence System. „Statt eines klassischen Integrationsprozesses, bei dem ein dominierender Konzern seine Strukturen durchsetzt, entstand das FES im Dialog – ein 'best of both', getragen von funktionalen Führungskräften beider Unternehmen", so Seibert. Im Jahr 2022 begann der intensive fachliche Austausch, Anfang 2023 bekannten sich beide Seiten zu einem gemeinsamen Excellence System im Rahmen eines mehrtägigen Workshops. Seitdem wird das System kontinuierlich weiterentwickelt – inzwischen in der dritten Version. Der Roll-out erfolgt weltweit und ist mittlerweile abgeschlossen: Nahezu alle Werke aus dem globalen Forvia-Verbund arbeiten bereits mit dem System.
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Mit seiner Struktur aus fünf strategischen Bricks und 58 operativen Fundamentals schafft das FES klare Standards, fördert aber zugleich dezentrale Verantwortung. Diese liegt bei sogenannten Fundamental Ownern, die vor Ort Prozesse steuern und weiterentwickeln. So wird das System nicht top-down administriert, sondern operativ getragen. Ergänzt wird es durch produktionsnahe Workshops, digitale Werkzeuge und eine konsequente Befähigung der Mitarbeitenden. Der Anspruch des FES ist es, Exzellenz nicht als Ausnahme oder Auszeichnung zu verstehen, sondern als Grundlage einer stabilen und zukunftsfähigen Organisation. Aus Sicht vieler Beteiligter gehört der Reifegrad dieses Systems zu den höchsten in der Industrie, weil es gelungen ist, den Lean-Gedanken glaubwürdig und wirksam in der eigenen Kultur zu verankern.
Im Kern basiert das FES auf den Prinzipien von Lean Management, ergänzt um weiterführende digitale Prozesssteuerung, Nachhaltigkeitsaspekte, Standardisierung und gezielte Mitarbeiterbefähigung. „FES ist für uns nicht nur ein Werkzeug, sondern Ausdruck einer Haltung“, sagt Werkleiter Matthias Mühlenbrock. „Es geht darum, Komplexität zu beherrschen, ohne Kreativität und Eigenverantwortung zu ersticken.“ Doch was heißt das konkret? Das FES definiert klare Standards für alle wesentlichen Bereiche der Fertigung – von der Maschinenausstattung über Prüfverfahren bis hin zur Taktzeitsteuerung. Diese Standards sind nicht statisch, sondern werden in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) regelmäßig überprüft und weiterentwickelt.
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„Wir definieren gemeinsam mit den Teams, wie ein Prozess weltweit aussehen muss, damit er effizient, sicher und skalierbar ist“, erläutert Mühlenbrock. „Das fängt bei der Auswahl eines Robotiksystems an und hört bei der Art auf, wie eine Prüfstation Softwaredaten auswertet. Jeder neue Standort, den wir aufbauen, profitiert direkt von diesem Erfahrungsschatz.“ Durch diese einheitlichen Vorgaben kann Hamm zusätzliche Synergien aus seiner Leitwerksfunktion ziehen – etwa beim weltweiten Wissenstransfer. “Gleichzeitig schafft das FES ein gemeinsames Verständnis für Qualität, unabhängig vom Standort. „Das FES ist extrem datengetrieben. Es soll dafür sorgen, dass unsere Mitarbeitenden jederzeit ohne großen Vorlauf datenbasierte Entscheidungen treffen können und sich nicht nur auf ihr Bauchgefühl verlassen müssen“, betont Thomas Henke, Head of Operational Excellence and Industrial Engineering Europe bei Hella.
Mühlenbrock betont die hohe Innovationskraft des Teams vor Ort – und wie das FES mit einem strukturierten Vorschlagsprozess die passenden Strukturen schafft: um Potenziale sichtbar zu machen, deren Umsetzung zu ermöglichen und Mitarbeitende aktiv einzubinden. In einer der Fertigungshallen ersetzten die Mitarbeitenden beispielsweise veraltete Luftbefeuchter – notwendig für den Schutz vor elektrostatischer Entladung (ESD) – durch moderne Ultraschallgeräte. Das Ergebnis: gut 110.000 Euro Stromkosten konnten jährlich eingespart werden. Besonders bemerkenswert: Die Amortisationszeit der neuen Geräte lag unter zwölf Monaten. Das Projekt steht exemplarisch für die im FES verankerte Verzahnung von Effizienz, Nachhaltigkeit und Mitarbeitereinbindung.
Ein weiterer Kernbereich des FES ist die Qualitätssicherung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. „Von der Kaufteilkontrolle über die Fertigung bis hin zur Kundenrückmeldung – alles läuft bei uns digitalisiert, standardisiert und nachvollziehbar“, so Mühlenbrock. Doch das System allein ist nicht entscheidend: „Es sind die Menschen, die es tragen.“ Deshalb setzt Hamm auch bei der Qualität auf Dezentralisierung: Jeder Bereich, jede interne Fabrik, jede Linie hat ihre eigenen Qualitätsziele. Unterstützt wird das durch ein Launch- und Change-Management-Team, das neue Produkteinläufe begleitet und die Serienreife absichert.
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Neben der Serienfertigung fungiert Hamm als Technologieleitwerk – vor allem für komplexe Produktionsprozesse wie Kleben, Laserschweißen oder hochpräzise Leiterplattenbestückung. Bei etwaigen Problemen in Litauen oder China greifen Werke direkt auf das Know-how aus Hamm zurück. Mühlenbrock erklärt, dass es für jede Technologie eine Expertengruppe gebe, die weltweit vernetzt sei und mit klar definierten Standards arbeite. Das schaffe Synergien, sichere die Qualität und spare letztlich Zeit und Kosten.
Die Kombination aus lokaler Kompetenz, globalem Technologietransfer und klaren Standards verleiht dem Standort Hamm eine besondere Stellung. Das Forvia Excellence System bietet dafür den strukturellen Rahmen – nicht als starrer Regelapparat, sondern als Orientierungssystem, das sowohl Vergleichbarkeit als auch Eigenverantwortung ermöglicht. In der Praxis zeigt sich das in der Fähigkeit, Prozesse gezielt zu verbessern, ohne dabei die Eigeninitiative der Teams zu bremsen.
In einer Zeit, in der viele Werke mit steigender Komplexität, hohem Effizienzdruck und volatilen Rahmenbedingungen konfrontiert sind, kann genau das zum Vorteil werden. Standardisierte Prozesse, klare Zuständigkeiten und digital gestützte Entscheidungen schaffen Transparenz und reduzieren Reibungsverluste. Damit wird das FES zum Instrument, um Stabilität und Entwicklung auch unter schwierigen Bedingungen zusammenzudenken. Nicht, weil es alles vorgibt, sondern weil es ermöglicht, das Richtige zur richtigen Zeit selbst zu entscheiden.