Start der Produktion der neuen Mercedes-Benz E-Klasse im Werk SindelfingenStart of production of the new Mercedes-Benz E-Class in plant Sindelfingen

Die Automobilfertigung in Deutschland, wie hier bei Mercedes-Benz in Sindelfingen, folgt intelligenten Prozessen, ist mit Blick auf die Energiepreise im internationalen Vergleich aber nahezu chancenlos. (Bild: Mercedes-Benz)

In Europa und insbesondere in Deutschland werden begehrenswerte Automobile gefertigt. Globalisierte Märkte haben der hiesigen Industrie mit ihren prestigeträchtigen Produkten vor allem in den vergangenen zwanzig Jahren ordentliche Gewinne eingebracht. Doch wie alles hat auch die weltweite Vernetzung eine Kehrseite. Traten mit ihr doch ganz neue Autokunden auf den Plan, die nun verstärkt Kompetenzen insbesondere bei den Themen Batterien, Software, Halbleitern oder Infotainment abrufen.

Neue Schnäppchen aus China kommen schneller als erwartet

Bloßes Mitspielen oder gar Hinterhermarschieren wird nicht ausreichen, um insbesondere im völlig rasanten Markt der vergleichsweise günstigen und multimedial vernetzten E-Mobile, namentlich aus China, vorne mitzumischen. „Begehrenswerte Produkte schaffen, Stärken verteidigen und den Kompetenzaufbau in diesen Bereichen weiter beschleunigen“ konstatierte die Unternehmensberatung McKinsey daher zur IAA 2023 in einer Analyse.

Ihren Weckruf haben die Marktexperten mit makroökonomischen Fakten unterfüttert, die ein deutliches Warnsignal an die hier produzierende Branche für die kommenden Jahre sein dürften. Die Energiekosten liegen für die europäische Autoindustrie im Moment schlicht zwei- bis dreimal höher als in China sowie den USA und die Risiken durch geopolitische Spannungen für die Lieferketten nehmen weiter zu. Gleichzeitig hält sich die Inflation in Europa hartnäckiger als in den USA und China. Die Branche muss also nicht nur neuartige Produkte erschaffen, sondern ihre Prozesse weiter verschlanken, um konkurrieren zu können.

Die großen OEMs straffen ihre Produktionen daher beständig und setzen dazu auch auf Kompetenzen externer Player, wie es ein Beispiel aus Stuttgart zeigt: Die neue Partnerschaft zwischen Microsoft und Mercedes-Benz wird unser globales Produktionsnetzwerk in Zeiten geopolitischer und makroökonomischer Herausforderungen intelligenter, nachhaltiger und resilienter machen“, betonte kürzlich Jörg Burzer, Vorstand bei Mercedes-Benz, Produktion und Supply Chain Management, mit Blick auf die Kooperation mit dem Tech-Riesen.

Energiepreise und Bürokratie drücken auf die Stimmung

Der Energiebedarf entlang der Wertschöpfungskette stellt sich freilich unterschiedlich dar. Ein Großteil des Bedarfs falle bereits bei den Zulieferern an und die Montage beim OEM benötige pro Fahrzeug in etwa zwei bis drei Megawattstunden, sagt Jürgen Simon, Associate Partner beim Beratungsunternehmen Berylls. Der Experte sieht bei den Zulieferern darüber hinaus ein sehr gemischtes Bild: „Es ist naheliegend, dass insbesondere im Bereich der Batteriezellen, Metallumformung, Glas und Reifen der Energieverbrauch wesentlich höher ist als beispielsweise bei der Montage von Elektronikkomponenten.“

Seit den Preisspitzen im Sommer 2022 könne man nun auch in einem eingeschwungenen Zustand einen signifikanten Unterschied bei den Energiekosten - besonders bei Strom - zwischen Europa und Nordamerika beobachten. Aktuell kostet Energie dem Berylls-Experten zufolge zirka 70 Euro pro Megawattstunde mehr: 30 Euro in den USA gegenüber 100 Euro in Deutschland im Durchschnitt 2023. Dieser Unterschied werde bei Standortentscheidungen - Greenfield und Brownfield - nun immer eine Rolle spielen, da eine Verbesserung zugunsten Europas grundsätzlich nicht zu erwarten sei, konstatiert der Marktanalyst.

Dies allein wäre im Rennen um die Wettbewerbsfähigkeit schon Grund genug, die Alarmglocken zu läuten. Doch die Branche hat noch mit weiterer Unbill zu kämpfen: die Bürokratie. Sie belaste den automobilen Mittelstand immer stärker und sei aktuell gar die größte Herausforderung für die Unternehmen, heißt es beim VDA. So gaben im Rahmen einer vom Automobilverband durchgeführten Umfrage unter 113 Unternehmen - darunter Automobilzulieferer sowie mittelständisch geprägte Hersteller von Anhängern, Aufbauten und Bussen - stolze 85 Prozent an, durch Bürokratie stark oder sogar sehr stark belastet zu sein.

VDA-Präsidentin Hildegard Müller mahnt: „Unsere Umfrage zeigt deutlich: Der automobile Mittelstand in Deutschland leidet immens unter überbordender Bürokratie und hohen Energiekosten. Dass immer mehr Unternehmen Investitionen ins Ausland verlagern, ist ein Warnsignal für Berlin!“ Die VDA-Präsidentin fordert, regulatorisches Klein-Klein durch langfristige Strategien für mehr Wettbewerbsfähigkeit zu ersetzen. Ob das 60 Milliarden Euro schwere deutsche Haushaltsloch dazu viel Spielraum lässt, ist fraglich.

Maschinenbau fordert industriefreundlichere Politik

Ebenso im Maschinenbau hinterlässt die globale Konjunkturflaute ihre Spuren. Für 2023 hob der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau(VDMA) seine Prognose zuletzt zwar etwas an, für 2024 erwartet er aber ein reales Produktionsminus von vier Prozent. Es sei allerhöchste Zeit dafür, der sozialen Marktwirtschaft wieder mehr zu vertrauen, betont VDMA-Präsident Karl Haeusgen. Ihm zufolge gilt es, die Themen Regulierung und Bürokratie zurückzudrängen und „den Unternehmen wieder mehr Freiräume für ihre Innovationen und auch den einzelnen Bürgern wieder mehr Freiheit und Verantwortung zu geben.“ Immerhin konnte der VDMA-Fachverband Robotik und Automation (VDMA R+A) zum Jahreswechsel eine etwas positiver klingende Prognose ausgeben: Für die Robotik- und Automationsbranche in Deutschland prognostiziert er für 2024 einen Anstieg des Umsatzes um immerhin vier Prozent, was einem Branchenumsatz von 16,8 Milliarden Euro entspricht.

Den gesamten Automotive-Sektor kann das Wohl und Wehe der Automatisierer nicht unbeeinflusst lassen. Ganz klar sei in der Maschinenbaubranche schon mal im Vorteil, wer in diesen Zeiten ein effizientes Produktportfolio sein Eigen nennen könne. Für OEMs und Zulieferer komme es aber entscheidend darauf an, wo der größte Hebel liege, weiß Berylls-Experte Simon. Als Beispiel nennt er die Lackiererei, die einen wesentlichen Anteil des Energieverbrauchs der OEMs ausmache. Durch innovative Ansätze, wie durch Einsatz von KI zur besseren Steuerung des Prozesses, lassen sich ihm zufolge Optimierungen des Energieverbrauchs im zweistelligen Prozentbereich realisieren. Dies helfe sicherlich zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, werde aber am Ende – vor allem bei Nachrüstungen oder Ersatzinvestitionen – eine reine Abwägung von Investitionen und Einsparungen sein, so der Experte. Seine Schlussfolgerung: „Eine unmittelbare Neu-Ausrüstung ganzer Fabriken aufgrund aktuell hoher Energiepreise wird sicher nicht erfolgen.

Mancher Wettbewerb wird vor Ort in China ausgetragen

Kernkompetenzen (noch) in Europa zu bewahren, steht bei einigen namhaften Unternehmen der Branche noch immer weit oben auf der Agenda. Zulieferer Schaeffler etwa hat seinen mittlerweile zwanzigsten R&D-Standort in Europa eröffnet. Im fränkischen Höchstadt hat das Unternehmen kurz zuvor auf einer Fläche von 8.000 Quadratmetern ein modernes Werkzeugtechnologiezentrum in Betrieb genommen. Auch BMW gibt einem wesentlichen Bauteil der Zukunft nahe dem Firmen-Stammsitz eine Heimat, wo der OEM ab 2026 die Fahrzeuggeneration Neue Klasse bauen wird. So soll das neue Cell Manufacturing Competence Center (CMCC), das Ende 2023 in Parsdorf nahe München eröffnet wurde, bei der Verbesserung der Wertschöpfungsprozesse der so immens wichtigen Batteriezelle eine entscheidende Rolle übernehmen.

Wer jedoch im chinesischen Markt kräftig mitmischen will, kommt um Engagements vor Ort kaum umhin. „China ist für uns wie ein Fitnessstudio. Wir müssen aber härter und schneller trainieren,“ sagte kürzlich VW-Chef Oliver Blume. Volkswagen baut daher im chinesischen Epizentrum der E-Mobilität Hefei, wo chinesische Größen wie NIO, JAC oder Xpeng angesiedelt sind, eine zweite Konzernzentrale auf, um die Aufholjagd im Elektrosegment zu starten. Dort haben die Wolfsburger in nur wenigen Monaten ihr größtes Entwicklungszentrum außerhalb Deutschlands aufgebaut. Mit der Volkswagen China Technology Company (VCTC) in Hefei soll die Entwicklung von Modellen für den chinesischen Markt von Wolfsburg nach China verlagert und damit die Zeit bis zur Marktreife von Fahrzeugen und Komponenten um 30 Prozent verkürzt werden. Nur wenige Kilometer vom neuen R&D-Zentrum entfernt hat der Konzern zudem ein neues Werk gebaut. Über tausend Zulieferer kommen fast ausschließlich von vor Ort - Zulieferer aus Deutschland findet man hier kaum.

Liegt das Heil in alten Tugenden?

Was können hiesige Hersteller gegen den Kostenvorteil der chinesischen E-Autos tun? Sie könnten diese Lücke weitgehend schließen, wenn sie ihre Fahrzeuge noch viel stärker am tatsächlichen europäischen Nutzerverhalten ausrichten würden, betont man bei McKinsey. Zudem könnten sie durch eine Integration der Batteriewertschöpfung und neue Batteriechemien kostengünstiger anbieten. Als einen weiteren Hebel nennen die Marktexperten schnellere Entwicklungszyklen. Die mögliche Lücke für Batterien beziffert man beim Beratungsunternehmen im Jahr 2030 auf fast 40 Prozent – Europa könnten 500 Gigawattstunden an lokaler Kapazität fehlen. Strategische Partnerschaften und eine enge Einbindung in die Forschungslandschaft könnten helfen, Weltklasse-Spieler zu entwickeln. Hier darf auch der deutsche Bundeskanzler beim Wort genommen werden, der gleich in seiner Neujahrsansprache explizit auf hiesige Kompetenzen bei Batterien und Halbleitern abhob.

Europa habe die Chance, aus der Not eine Tugend zu machen und durch eine innovative Kreislaufwirtschaft die Abhängigkeiten von Primärmaterialien zu reduzieren, sagt McKinsey-Partner Patrick Schaufuss gegenüber Automobil Produktion und betont: „Dadurch könnte eine nachhaltige Lieferkette für Batterien etabliert werden, die zum Vorbild für andere Regionen werden kann. Schon heute zählt die Batterieproduktion in Europa zu den nachhaltigsten der Welt, ebenso sind die Nachhaltigkeitsziele am höchsten gesteckt.“ Gelinge es gleichermaßen durch technische Innovationen die Kosten zu reduzieren und Prozesse noch effizienter und nachhaltiger zu gestalten, dann könne Europa durchaus mit anderen Regionen mithalten.

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