„Wir haben ein Europa, das in Bürokratie erstickt“
Ehemaliges Bundestagsmitglied und Staatsministerin unter Angela Merkel: die diplomierte Kauffrau Hildegard Müller führt den VDA seit 2020.)
(Bild: Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA))
Wie kann die deutsche Autoindustrie im globalen Wettbewerb bestehen? VDA-Präsidentin Hildegard Müller fordert hierfür einen Mentalitätswandel in Berlin und Brüssel – weniger Bürokratie, wettbewerbsfähige Energiepreise und Investitionssicherheit.
Die Herausforderungen für die deutsche Automobilindustrie sind gewaltig: Hohe Energiekosten, neue Berichtspflichten, globale Konkurrenz und immer mehr EU-Vorgaben setzen die Branche unter Druck. Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), warnt vor einem regulatorischen Overload – und fordert im Gespräch klare Zuständigkeiten, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen und eine politische Kurskorrektur. Warum die ökologische Transformation nur mit ökonomischem Erfolg gelingen kann und welche Prioritäten der VDA bei Digitalisierung, ESG und internationalem Wettbewerb setzt, erklärt die Christdemokratin im Interview.
Frau Müller, welche Kernforderungen stellt der VDA an die neue EU‑Legislatur, um den Standort Deutschland trotz ETS und CBAM wettbewerbsfähig zu halten?
Klimaneutrale und digitale Mobilität ist das klare Ziel der deutschen Automobilindustrie – in Deutschland und weltweit. Deswegen steht der VDA auch hinter den Pariser Klimazielen und treibt den Wandel mit hohen Investitionen und großartigen Innovationen voran. Entscheidend ist, dass sich in Berlin sowie Brüssel eine wichtige Erkenntnis durchsetzt, die für eine zielführende Transformation ganz entscheidend ist: Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg dürfen kein Widerspruch sein. Das heißt: Klimaneutralität muss auch ein Geschäftsmodell für Unternehmen sein. Ich bin überzeugt, dass dafür Klimaschutzpolitik und Wirtschaftspolitik aufeinander abgestimmt werden müssen – dann kommen wir zu einer Win-win-Situation. Zurzeit ist das entkoppelt – oft sogar ein Gegeneinander. Ohne Wachstum und Arbeitsplätze wird aber auch der Klimaschutz nicht dauerhaft auf Akzeptanz stoßen. Es braucht also ein Umdenken, nichts weniger als einen Mentalitätswandel: Man kann in Deutschland und Europa zum Beispiel nicht von der Wirtschaft Geschwindigkeit fordern, wenn man selbst bei allen wichtigen eigenen Projekten hinterher hängt. Wenn man die Herausforderungen – ob bei Energie, Rohstoffen oder Bürokratieabbau – nicht angeht, kein Tempo macht und sich zu oft in Absichtserklärungen verliert, reicht das einfach nicht. In anderen Worten: Eine Politik, die Ziele setzt, ohne dafür zu sorgen, dass die Ziele auch erreicht werden können, ist eine schlechte Politik. Auch deswegen fordern wir in unserem 10-Punkte-Plan, die Reviewprozesse der Flottenregulierung vorzuziehen, um die so Nachholbedarfe bei Ladeinfrastruktur, Ladestrompreis und der Versorgung mit Rohstoffen und Vorprodukten schnell anzugehen. Denn wir setzen alles daran, dass wir bei der E-Mobilität schnell und entscheidend vorankommen.
Wie wollen Sie die deutsche Autoindustrie auf die strengeren ESG‑Reporting‑Pflichten der Ecodesign‑Verordnung vorbereiten?
Unser Anspruch jetzt und in Zukunft ist es, die besten digitalen und klimaneutralen Produkte für die Mobilität anzubieten. Doch statt immer weiter und tiefgehender auf Regulierung und Verbote zu setzen, muss die Politik den Unternehmen Freiheiten geben und Vertrauen schenken. Hier ist etwas aus der Balance geraten – wir haben ein Europa, das sich im Mikro-Management verliert, alles regeln will und in Bürokratie erstickt. Damit wird unendlich viel Potenzial verspielt – und Investitionen wandern zunehmend ab. Auch hier gilt deshalb: Ein Mentalitätswandel, der auf die geopolitischen Realitäten reagiert, der in den richtigen Momenten auf Flexibilität und Pragmatismus setzt, der entfesselt und nicht einschränkt, ist dringend notwendig. Ich erinnere auch an Mario Draghi, der in seinem Report für die EU festgestellt hat, dass das Konzept der überbordenden Regulierung gescheitert ist.
Sehen Sie eine Chance, Batteriezell‑Fertigung in Europa ohne Staatssubventionen global konkurrenzfähig zu machen?
Der Strompreis liegt für deutsche Unternehmen derzeit bis zu dreimal höher als für internationale Wettbewerber aus den USA oder China. Diese hohen Stromkosten erschweren nicht nur den erfolgreichen Hochlauf der E-Mobilität und belasten Industrieunternehmen, sie sind ebenso ein großes Hindernis, wenn es um den Aufbau von Batteriekapazitäten geht. Fakt ist: Damit Europa und Deutschland wichtige Standorte für die Entwicklung und Produktion von Batterien und Halbleitern für Autos werden können, sind günstige Energiepreise und auch ein innovationsfreundlicheres Umfeld entscheidend. Denn auch mit Blick auf die bürokratischen Hürden überlegen sich Unternehmen, ob sie sich hier ansiedeln können oder woanders, wo die Rahmenbedingungen besser sind. Entscheidend ist außerdem, die Rohstoffversorgung für Batterien zu sichern, unter anderem durch den Abschluss von Rohstoffpartnerschaften und den Aufbau einer Batteriekreislaufwirtschaft zu forcieren.
Chinesische Autobauer bringen zunehmend konkurrenzfähige Modelle auf den europäischen Markt. Wie positioniert sich der VDA zu Importen chinesischer E‑Autos?
Die deutsche Automobilindustrie mit ihren Herstellern und Zulieferern stellt sich dem internationalen Wettbewerb seit Jahrzehnten – und das sehr erfolgreich. Deutschland ist die europäische Herzkammer der E-Autoproduktion und zweitwichtigster E-Standort weltweit. Gut sieben von zehn E-Autos, die in Deutschland zugelassen werden, stammen von einem deutschen Hersteller, in Europa ist es jedes zweite. Bereits heute bieten die deutschen Hersteller weltweit etwa 160 E-Modelle in allen Segmenten. Diese Zahlen sprechen für sich und zeigen, dass die deutsche Automobilindustrie eine beeindruckende und innovative Branche ist, die Zukunftstechnologien entwickelt und den Wandel zur Klimaneutralität voranbringt. Das wissen auch die chinesischen Hersteller und verbauen daher beispielsweise Teile und Technik der deutschen Zulieferer in ihren Fahrzeugen. Der VDA setzt sich für freien, fairen und regelbasierten Handel ein, das betrifft sowohl Exporte als auch Importe aus Drittländern. Eine grundsätzliche Erkenntnis für alle Hersteller und Zulieferer – egal ob aus China oder Deutschland – ist, dass die Fähigkeit, die jeweiligen Bedürfnisse auf den unterschiedlichen Märkten zu identifizieren und entsprechend zu agieren, ganz entscheidend für den Erfolg ist. Zudem brauchen wir die international wettbewerbsfähigen Produktionskosten, um auch in den Preisen mithalten zu können.
Welche Digitalisierungs‑Initiativen priorisiert der Verband, damit Lieferketten‑Transparenz verlässlich wird?
In der Automobilbranche gibt es diverse ambitionierte Ansätze, um die Sorgfaltspflichten in der Lieferkette zuverlässig sicherzustellen. Unsere Industrie ist da schon lange in einer Vorreiterrolle. Das hohe Engagement unserer Branche für nachhaltige Lieferketten findet sich beispielsweise in der Responsible Supply Chain Initiative wieder, die der VDA zusammen mit Unternehmen und anderen Verbänden initiiert hat. Ziel dieser Initiative ist es, durch freiwillige Vor-Ort-Überprüfungen soziale und ökologische Risiken entlang globaler Lieferketten frühzeitig zu erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Um den zahlreichen Herausforderungen in diesem Kontext zu begegnen, priorisiert der VDA zudem verschiedene Digitalisierungsinitiativen. Eine zentrale Rolle nimmt dabei Trusted Information Security Assessment Exchange (TISAX) ein. Das vom VDA initiierte Prüf- und Austauschverfahren schafft einheitliche Standards und ermöglicht es, sensible Daten zwischen Unternehmen entlang der Lieferkette sicher auszutauschen. TISAX fördert damit nicht nur Vertrauen, sondern auch Transparenz und Vergleichbarkeit. Darüber hinaus gewinnt auch die Initiative Catena-X zunehmend an Bedeutung. In diesem offenen, kollaborativen Datenökosystem der Automobilindustrie bildet sich aktuell eine Projektgruppe, die an der Standardisierung eines sogenannten Due-Diligence-Checks arbeitet – speziell zugeschnitten auf die Anforderungen mittelständischer Unternehmen. Ziel ist es, kombinierbare Datenpunkte zu definieren und miteinander zu verknüpfen, um die Sorgfaltsbemühungen entlang der Lieferkette effizient, skalierbar und digital überprüfbar zu machen. Ergänzend dazu werden auch digitale Produktpässe und blockchainbasierte Lösungen gefördert, um Materialherkunft, Nachhaltigkeitskriterien und Compliance-Daten über die gesamte Lieferkette hinweg transparent und fälschungssicher zu dokumentieren.