Jede Grundschulturnhalle ist größer, statt Wänden gibt es nur ein paar Raumteiler, Türen haben sie sich ganz gespart und viele Maschinen stehen auch nicht herum in Michael Küblers Reich. Obwohl er für einen Weltkonzern arbeitet und sein Refugium in einem ausgewachsenen Automobilstandort liegt, leitet, nein, ist er die wohl kleinste Motorenfabrik der Welt und treibt das bei AMG fast schon heilige Prinzip One Man, One Engine auf die Spitze. Denn während nebenan immerhin rund 300 Kollegen die Acht- und Vierzylinder für Autos wie den AMG GT oder den A 45 montieren, baut er in seinem kleinen Reich im ersten Stock des AMG-Powerhauses den V12-Motor für Supersportwagenhersteller Pagani – und zwar als einziger im ganzen Unternehmen.
Der Letzte seiner Art
Nachdem das sechs Liter große Triebwerk bei Mercedes nur noch in der Maybach-Variante der S-Klasse sowie im gepanzerten Guard eingesetzt wird und AMG den Bi-Turbo vor vier Jahren mit dem 630 PS starken S 65 Final Edition verabschiedet hat, ist der Utopia der italienischen Edelschmiede das einzige Auto mit dem Affalterbacher Meisterstück und Michael Kübler einer ihrer wichtigsten Mitarbeiter. Selbst wenn er 727 Kilometer weit entfernt vom Pagani-Stammsitz in San Cesario sul Panaro arbeitet und sein Gehalt aus Stuttgart bekommt.
Auch wenn die gewöhnliche AMG-Produktion schon als Manufaktur durchgeht, ist das fast Großindustrie verglichen mit der Arbeit in Küblers Schatzkammer des Motorenbaus. Denn wo nebenan die Vierzylinder im strengen Takt durch mehr als ein Dutzend Stationen wandern und jedem Monteur dabei wie ein digitaler Schoßhund ohne Leine automatisch eine Art Einkaufswagen mit allen Teilen folgt, steht Kübler an seinem Montagestand, flitzt zwischen Werkzeugauslage und Teileregal hin und her und baut den mächtigen Motor stationär auf. Das ist nicht nur aufwändiger, sondern dauert auch länger. Statt 2,5 Vierzylinder oder zwei V8-Motoren pro Schicht schafft er deshalb im besten Falle einen Motor pro Woche.
In 18 Schritten zum Meisterstück
Das Prinzip ist allerdings auch bei Kübler das gleiche: Er bekommt den nackten Motorblock aus dem Gußwerk in Mannheim, prägt die Motornummer ein, montiert Kolben und Pleuel vor und fügt dann in 18 Schritten ein Puzzle aus 700 bis 800 Teilen zusammen.
Wenn alle Kolben, Kurbelwellen, Schrauben, Leitungen, Ventile und Zahnräder montiert sind, wiegt der Zwölfzylinder runde 300 Kilo und die Gummireifen seines Montagewagens quietschen leise, wenn Kübler jeden Motor auf den Prüfstand schiebt. Dort wird der V12 zumindest einmal gezündet und man bekommt eine Ahnung davon, was Pagani-Kunden erwarten können, wenn sie das erste Mal auf den Anlasser ihres dann immerhin 864 PS starken Utopia drücken.
Kübler allerdings packt den Motor erst mal wieder ein und bringt ihn in der Transportbox auf den Weg nach San Cesario sul Panaro. Dabei muss er auf einen kleinen, für die AMG-Werker aber ganz besonderen Arbeitsschritt verzichten: Die Plakette mit dem Namen des Mitarbeiters, der den Motor montiert hat, wird nicht rituell in Affalterbach aufgebracht, sondern von seinen Kollegen in Italien.
„Je nach Modell mal verchromt, mal vergoldet oder aus Karbon ist die bei Pagani so fragil, dass sie zum Schutz vor kleinsten Kratzern erst ganz kurz vor der Auslieferung des Wagens montiert wird“, sagt Kübler mit einem Schulterzucken. Statt sie auf einem V12-Motor zu zeigen, nimmt er seine Besucher deshalb mit zur Wall of Fame, an der alle Plaketten der Belegschaft zu sehen sind – seine natürlich auch.
Alles für den schwäbisch-italienischen V12
Zwar ist Kübler regelmäßig in Italien, vor allem, wenn Pagani neue Modelle oder Varianten entwickelt, er steht dank seiner Social-Media-Aktivitäten im engen Kontakt mit vielen Kunden, die „seinen“ Motor in ihrem Auto haben – und natürlich hat er bei seinen Pagani-Besuchen auch schon mal am Steuer eines Zonda oder eines Huayra gesessen. Doch als Privatwagen bleiben die Pagani bei Preisen jenseits von drei Millionen Euro wohl auf ewig ein Traum. Aber erstens ist ein AMG GT63 als Privatwagen ja auch nicht schlecht, sagt er mit einem Schmunzeln. Und zweitens würde er selbst einen Lottogewinn nicht in einen Utopia investieren, sondern – wenn schon, denn schon – in einen AMG CLK GTR, der für ihn so etwas wie der ultimative AMG ist und natürlich ebenfalls einen V12-Motor an Bord hat.
Er kann kommen und gehen wann er will, muss sich an keine Schichtpläne halten und sich nicht groß mit Kollegen abstimmen – natürlich weiß Kübler um seine Sonderrolle. Und er weiß, dass er für die Achse zwischen Affalterbach und San Cesario sul Panaro nahezu unverzichtbar ist. Zwar gibt es streng genommen in der Entwicklung einen Kollegen, den Kübler als Vertreter eingearbeitet hat. Doch nötig war das noch nicht, sagt der der V12-Mann stolz: Seinen Urlaub legt er traditionell in die Werksferien der Italiener und einen Krankheitstag hat es in seiner Karriere bislang noch nicht gegeben.