
Am AMG-Stammsitz in Affalterbach stehen traditionell vor allem PS im Fokus. (Bild: Mercedes-Benz)
Ein Mann, ein Motor – das ist ein Prinzip, von dem sich Mercedes schon kurz nach den Zeiten Gottfried Daimlers und Carl Benz verabschiedet hat. Denn Manufaktur passt nicht zu Massenproduktion - selbst wenn sie seit Jahrzehnten vornehmlich fürs Luxussegment erfolgt.
Doch zumindest bei AMG in Affalterbach ist diese Arbeitsweise ein ehernes Gesetz – und das gilt bis heute. Ja, ihre Sechszylinder baut die Muttermarke für sie. Aber die 53er Modelle, in denen AMG den so genannten M256 montiert, werden von eingefleischten AMG-Fans ohnehin nicht ganz für voll genommen. Doch den „stärksten Vierzylinder der Welt“ für A45 und CLA45 sowie ihren mittlerweile fast schon ikonischen V8 bauen sie selbst – und zwar ausschließlich von Hand in eben jenem „One Man, One Engine“-Prinzip – selbst wenn „Man“ hier längst nicht mehr für Mann steht, sondern mittlerweile immerhin fünf Frauen unter den Motorenbauern in der Mercedes-eigenen Mucki-Bude sind.
In Affalterbach dreht sich alles um den Motor
Für diesen Luxus leisten sich die schnellen Schwaben eine eigene Motorenmanufaktur, die so etwas ist wie der Nukleus von Affalterbach und direkt neben dem einstigen Wohnhaus der Familien Aufrecht und Melcher steht, die das Unternehmen 1967 mit Anfangs zwölf Mitarbeitern gründeten – nicht zuletzt mit dem Geld von Aufrechts Frau Rosie, die in ihrem Salon vor dem Haus die Köpfe der Dorf-Damen frisierte, während ihr Mann Hans-Werner in der Werkstatt dahinter zusammen mit seinem Partner Erhard Melcher für deren Männer die Motoren frisierte.
Keinen Steinwurf weiter steht jetzt das Power House der Performance-Marke, in dem 300 Motorenbauer diese Tradition in drei Schichten an fünf Tagen die Woche weiter pflegen: Auf zwei Etagen und rund 5.000 Quadratmetern bringen sie die Herzen der wichtigsten AMG-Modelle zum Schlagen und sind darauf so stolz, dass jeder seinen Namen an einer Wall of Fame im Treppenhaus verewigt hat.

Diese Mechaniker, Mechatroniker und Motorenbauer, die für jedes ihrer Triebwerke mit der eigenen Unterschrift bürgen, machen zwar nur etwa ein Zehntel der gesamten AMG-Belegschaft aus, und der Rest der Kollegen belegt viel mehr Fläche in dem Flickenteppich von Gewerbegebiet, den AMG seit 1976 in Affalterbach ausmacht. Doch wenn sie hier in ihrer Heimstatt schon kein Auto montieren, weil die AMG-Modelle traditionell in den jeweiligen Werken mit den bodenständigen Baumustern vom Band laufen und der GT zusammen mit dem SL als eigenständige AMG-Baureihe in Bremen auf die Räder gestellt wird, ist die Motorenmanufaktur tatsächlich das einzige Produktionsgebäude in Affalterbach. Überall sonst wird entwickelt und entschieden, gemessen und geprüft, verkauft und verwaltet, aber nur hier findet die eigentliche Wertschöpfung statt.
Im Tiefparterre findet die Zieleinfahrt statt
Im Tiefparterre sorgt dafür der V8-Motor M177, mit dem jeder Mitarbeiter durch 19 Stationen geht, sich immer wieder einen der 400 Drehmoment-Schrauber von der Decke zieht und peu à peu die bis zu 570 Einzelteile zusammenfügt, zwischendurch Abschnittsprüfungen macht, bevor er am Ende der U-förmigen 200-Meter-Strecke über eine tatsächlich auf den Boden gemalte Ziellinie rollt. Dann zieht er aus dem großen Schubladenschrank die Plakette mit seiner Unterschrift und pappt sie in den Zylinderkopfdeckel, bevor die meisten der Motoren noch auf den Prüfstand gehen. Denn bevor sie nach Graz zur G-Klasse verschickt werden, nach Tuscloosa für die SUVs, nach Bremen für GT und SL oder einfach nach Sindelfingen für S-Klasse & Co, müssen sie dort beweisen, dass sie wirklich bis zu 639 PS bringen.
Pro Durchlauf braucht ein Mitarbeiter runde vier Stunden, so dass er in seiner Schicht im besten Falle zwei Motoren fertig bekommt. Und falls das nicht klappt, übernimmt nicht der Nachfolger, sondern noch vor dem Feierabend schiebt er seinen V8 an den Rand und macht am nächsten Tag daran weiter.
Als AMG vor fünf Jahren den Vierzylinder M139 ebenfalls nach Affalterbach holte, haben sie in der Etage darüber den Motorenbau weiter verfeinert. Statt kleiner Lastzüge hinter Gabelstaplern gibt es jetzt automatische Förderfahrzeuge: Jedem Monteur folgt wie ein Hund an der Leine automatisch ein Wagen mit allen Bauteilen für seinen spezifischen Motor und statt ständig die Werkzeuge zu wechseln, nutzt er einen Akkuschrauber , der über ein Indoor-GPS System-gesteuert wird. So weiß das Werkzeug immer, an welcher Stelle es gerade angesetzt wird, welchen Aufsatz es freigeben muss und mit welchem Drehmoment welche Schraube angezogen werden soll. Und statt viele Bauabschnitte separat und von Hand zu prüfen, gehen die vier Zylinder alle paar Stationen in einen automatischen Prüfstand und sind 90 Sekunden später freigezeichnet. Das zahlt sich aus: Bis zu 30 Prozent an Zeit sparen sie im ersten Stock und sind deshalb mit jedem Motor schon in gut zweieinhalb Stunden fertig, sagt Niklas Baedke, der die Customer Experience bei den Schwaben leitet und mehrmals pro Woche Gäste durch die Manufaktur führt.
E-Mobilität stellt das Manufakturprinzip auf den Prüfstand
Zwar haben sie noch viele Ideen, wie sie ihre Motorenmanufaktur weiter optimieren können, die Effizienz steigern und so das Prinzip der Handarbeit weiter über die Zeit retten können, sagt Baedke. Doch droht den Motorenbauern auch in Affalterbach der Wandel. „Denn wie wir E-Maschinen personalisieren und im Manufaktur-Verfahren herstellen sollen, darüber denken wir zwar intensiv nach, haben aber so recht noch keine Lösung gefunden.“
Aber das müssen sie ja auch (noch) nicht. Denn auch wenn um Affalterbach herum schon die ersten echten Starkstromer gesichtet wurden, die nicht auf Werksmodellen basieren, sondern auf der neuen Plattform AMG.EA, werden sie im Kraftraum schon noch eine Zeitlang gut zu tun haben. „Wir werden solange Verbrenner anbieten, wie unsere Kunden danach fragen“, sagt Baedke. Und so, wie es aktuell aussieht, ist das wohl eher länger als kürzer. Kein Wunder also, dass sie gerade nochmal eine weitere Pinwand an die Wall of Fame im Flur gehängt haben, an der die Mitarbeiter stolz ihre signierten Motorenplaketten präsentieren wie andere ihre Autogrammkarten.