Herr Schmidtner, Ingolstadt soll die Blaupause für die Transformation des internationalen Produktionsnetzwerks bei Audi werden. Füllen Sie doch den Satz mal mit Leben.
Wir verfolgen bei Audi in der Produktion die Strategie 360factory. Alle unsere Werke sind in diese Strategie eingebunden. Ingolstadt als Konzernsitz hat dabei eine besondere Rolle. Wir haben aus der 360factory eine spezifische Strategie für unser Werk abgeleitet. Unser Ziel ist es, das attraktivste Automobilwerk der Welt zu werden. Das mag ambitioniert klingen, aber wer Großes erreichen will, muss sich anspruchsvolle Ziele setzen. Wir haben dazu zehn strategische Handlungsfelder identifiziert, die uns bis 2033 zum Ziel leiten werden. Dabei haben wir für jedes Handlungsfeld einen klaren Plan und wissen genau, wohin wir wollen. Strategiearbeit ist für mich immer Teamarbeit. Wir beteiligen alle Führungskräfte und Mitarbeitenden in der Produktion aktiv an der Planung für die Zukunft. Wenn man bedenkt, dass wir rund 15.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Produktion am Standort haben, ist da ein enormes Potenzial. Wenn nur jeder Hundertste eine gute Idee einbringt, entsteht daraus ein unvergleichlicher Fundus.
Kommen denn oft gute Ideen direkt vom Shopfloor und wenn ja, wie?
Bei Audi haben wir ein Ideen-Programm, über das Mitarbeitende Vorschläge einreichen können. Diese werden bewertet und prämiert. Daneben setzen wir auf den kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP), insbesondere in der Fertigung. Dabei werden Ideen in Workshops gesammelt und anschließend in der Praxis erprobt. Dieses System des Ideenmanagements und des KVP ist seit Jahren gelebte Praxis bei uns. Es ermöglicht den Mitarbeitenden, ihren Arbeitsplatz aktiv mitzugestalten und die Arbeitsprozesse stetig zu optimieren.
Im Werk arbeiten aktuell rund 15.000 Menschen. Mit fortschreitender Automatisierung dürfte sich diese Anzahl künftig deutlich minimieren.
Das kann ich so nicht bestätigen. Es gibt zwei Aspekte dazu. Erstens wollen wir die Mitarbeitenden aus der Fertigung an einer neuen Arbeitswelt teilhaben lassen, beispielweise durch mehr Flexibilität im Schichtbetrieb und eine noch höhere Aufenthaltsqualität im Betrieb. Denn wir werden auch in Zukunft den Schichtbetrieb beibehalten, um unsere Investitionen optimal zu nutzen. Ein zweiter Punkt ist, dass wir trotz der Automatisierung den Bedarf an Mitarbeitenden nicht signifikant verringern werden. Denn wir haben die Fertigungstiefe erweitert und durch die Elektromobilität neue Arbeitsplätze geschaffen, etwa in der hochautomatisierten Batteriefertigung. Am Ende werden sich die Arbeitsinhalte verändern, aber die Zahl der Mitarbeitenden sollte auf dem heutigen Niveau bleiben. Wir haben eine Beschäftigungsgarantie bis 2029 und schaffen aktuell 500 Arbeitsplätze für die Fertigung.
Wie ist Ihr Ansatz zum Thema Umschulung von Mitarbeitern?
Es ist entscheidend, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitzunehmen und nicht nur zu schulen. Wir wollen sie motivieren, den Wandel zur E-Mobilität mit Begeisterung mitzugestalten. Diese Transformation passiert am Ende in der Produktion im Werk. Unser Schulungskonzept hat mehrere Säulen. Wir beginnen frühzeitig mit digitalen Schulungen, noch bevor ein Auto auf der Linie produziert wird. Der zentrale Bestandteil ist die frühzeitige Integration des Fahrzeugs in die Serienanlagen, sodass die Mitarbeitenden ihr zukünftiges Produkt bereits in den Anfangsphasen selbst bauen.
Einige Experten argumentieren, Technologie könnte Qualitätskontrollen besser durchführen als Menschen. Markus Haupt, Produktionsvorstand von Seat, glaubt perspektivisch an eine gänzlich autonome Qualitätskontrolle. Wie sehen Sie das?
Ich bevorzuge Automatisierung bei schweren und repetitiven Aufgaben, um die Menschen zu entlasten. Die Expertise des Menschen ist durch Sensoren nur schwer zu ersetzen. Ich glaube an eine kombinatorische Anwendung von menschlichem Know-how und Automatisierung. Abnahmen und die Freigabe des Fahrzeugs würde ich immer den Menschen überlassen.
Angesichts der vielen Veränderungen und Personalwechsel im Volkswagen-Konzern, fühlen Sie sich durch den von Oliver Blume initiierten neuen Ansatz unter Druck?
Ich nehme wahr, dass wir unseren positiven Weg der Transformation fortsetzen. Es gibt eine klare Strategie und klare Handlungsfelder, und ich empfinde dies als motivierend für die gesamte Mannschaft.
Es gab Verzögerungen bei der Entwicklung des Q6 e-tron. Warum und wie sicher ist die versprochene Auslieferung des Fahrzeugs im nächsten Jahr?
Der Q6 e-tron wird nächstes Jahr definitiv auf den Markt kommen. Es ist ein komplett neues Fahrzeug mit einer neuen Elektronikarchitektur, der E³, einer neuen Fahrzeugplattform, der Premium Platform Electric und einem neuen Antriebskonzept. Der Innovationsgrad des Produkts ist extrem hoch, es wird ein deutlicher Sprung nach vorn sein.
Die angesprochene PPE-Plattform, an deren Entwicklung Sie beteiligt waren, macht schon länger Probleme. Woran genau hakt es?
Die Entwicklung eines komplett neuen Produkts ist immer mit Aufwand und Herausforderungen verbunden. Wir haben uns für eine kompromisslose Elektroplattform entschieden, um die besten Eigenschaften der Elektromobilität darzustellen. Dieser Weg ist meiner Meinung nach der Richtige. Die Eigenschaften werden überzeugen, mehr möchte ich zu diesem Zeitpunkt nicht verraten.
Wodurch hebt sich die PPE-Plattform von denen der Konkurrenz ab?
Die PPE ist eine reine Elektroplattform, die kompromisslos die Eigenschaften der Elektromobilität darstellt. Es hätte andere Lösungswege gegeben, aber wir haben uns dazu entschieden, das Beste für die Kundinnen und Kunden abzubilden.
Sie bleiben vage, denn das würde die Konkurrenz sicher auch behaupten. Also haben Sie sich bewusst so viel Zeit genommen, um besser zu sein als BMW und Mercedes-Benz?
Ich weiß nicht im Detail, was die Wettbewerber in München und Untertürkheim in Zukunft vorhaben. Unser Produkt wird definitiv gut sein. Darum geht es in erster Linie: ein überzeugendes Produkt zu liefern.
Wechseln wir auf die strategische Ebene: Ihre Ziele für Elektromobilität sind sehr ambitioniert, mit einem Plan für 100 Prozent Elektromobilität bis 2029. Wie soll das funktionieren?
Noch in diesem Jahr beginnt die Produktion des Audi Q6 e-tron auf Basis der Premium Platform Electric. 2024 folgt der Audi A6 e-tron, ebenfalls auf Basis der PPE. Damit werden schon 2025 zwei von vier in Ingolstadt gebauten Modellen vollelektrisch sein. Und bis 2029 werden wir zu 100 Prozent elektrifiziert sein. Wir haben einen klaren Plan für die Umstellung und sind zuversichtlich, dass wir ihn realisieren.
Aber wie? Momentan läuft hier kein einziges Elektroauto vom Band. Und was geschieht mit den Verbrennermodellen, die derzeit in Ingolstadt gebaut werden?
Eine Linie wird für reine PPE-Fahrzeuge umgebaut. Dort werden der Q6 e-tron und der A6 e-tron gebaut. Die Nachfolger des A4 und des A5 werden zukünftig in Neckarsulm gebaut.
Wie schaffen sie es, die Produktion flexibel anzupassen?
In Ingolstadt gibt es eine vollflexible Linie, die sowohl Verbrenner als auch Elektrofahrzeuge in Vorserie produzieren kann. Diese Flexibilität ermöglicht den Umstieg im Bestand.
Wie sieht der Fahrplan bei der Batteriemontage aus und welche Auswirkungen hat der Umstieg auf E-Mobilität auf die verschiedenen Produktionsbereiche?
Das ist ein komplett neues Gewerk, in dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade qualifiziert werden. Dort wird künftig parallel zur Fahrzeugfertigung für die Serie produziert. Während der Karosseriebau und die Lackiererei keinen grundlegenden Unterschied sehen werden, ist die Batteriemontage ein neues Gewerk mit komplett neuen Technologien. In der Vormontage wird es natürlich Veränderungen geben, gleichzeitig haben wir in der Endmontage einen hohen Gleichheitsgrad mit der Produktion von Verbrennern. Insgesamt wird der Produktionsprozess eine Mischung aus neuen und nur geringfügig angepassten Bereichen sein.
Wie stehen Sie persönlich zu E-Fuels und Wasserstoff?
Ich bin stolz, dass ich als Werkleiter die nächste Generation der E-Mobilität auf den Weg bringen darf. Der Fokus liegt momentan auf der batterieelektrischen Mobilität, andere alternative Antriebe und Kraftstoffe sind zwar in der Diskussion, stehen aber nicht im Vordergrund. Meine Priorität ist, die E-Mobilität erfolgreich in Serie zu bringen. Das ist Herausforderung genug.
Welche Rolle spielen innovative Technologien wie Edge Cloud 4 Production und der Digital Twin in Ingolstadt?
Projekte wie Edge Cloud 4 Production, das sich mit der Zentralisierung der Rechner beschäftigt, sind Teil der Digitalisierungsstrategie von Audi und werden strukturiert und geplant in unseren Werken ausgerollt und implementiert, wo es sinnvoll ist. Durch die Verwendung von Cloud-Technologie kann Audi in der Produktion zentrale Updates durchführen, Störfälle analysieren und den Wartungsaufwand reduzieren, was zur Steigerung der Effizienz und Wirtschaftlichkeit führt. Der Digital Twin wird in jedem Audi-Werk verwendet, sowohl in der Werkinfrastruktur als auch im Produkt.
Wie setzen Sie künstliche Intelligenz ein, und welche Vorteile sehen Sie in diesen Technologien?
Das Thema Künstliche Intelligenz wird immer spannender. Im Presswerk nutzen wir in der Rissüberwachung an Einzelteilen KI, weil wir dadurch mit deutlich mehr Prozesssicherheit und Effizienz arbeiten. Auch im Lackierverfahren werden wir künftig KI einsetzen.
Da Sie die Lackiererei angesprochen haben. Wie streben Sie Klimaneutralität und erfolgreiche Kreislaufwirtschaft in Ingolstadt an?
Wir werden am Standort ab 2024 bilanziell CO2-neutral sein. Ein weiterer Schwerpunkt in Ingolstadt ist die ressourcenschonende Nutzung von Wasser und dessen Wiederverwendung. Durch Regenrückhaltebecken schaffen wir es, pro Jahr bis zu 250.000 Kubikmeter Regenwasser zu nutzen. Ein Betriebswasserversorgungszentrum mit einem Membranbioreaktor macht aus Abwasser wieder qualitativ hochwertiges Betriebswasser. Damit reduzieren wir den Frischwasserbedarf in der Produktion um rund ein Drittel. Um Ressourcen zu schonen, steigen wir in Ingolstadt im Bestand des Werkes auf die E-Mobilität um. Wir nutzen die vorhandene Gebäudeinfrastruktur, worauf ich wirklich stolz bin. Eine neue Fabrik zu bauen, ist das eine – im Bestand umzusteigen ist „next level“.
Welches Gewerk hat das größte Einsparpotenzial in der Produktion?
Das größte Einsparpotenzial liegt in der Lackiererei. Hier wird die meiste Energie verwendet, aber durch Evolutionen in der Technologie wie beispielsweise die Trockenabscheidung und den Umluftbetrieb als besonders energieeffiziente Herangehensweise konnte der Energie- und Wasserverbrauch im Vergleich zu älteren Lackierereien deutlich reduziert werden.
Wie sieht es in den anderen Bereichen aus?
In unserem Presswerk wird der Verschnitt zum Beispiel wieder der Wertschöpfungskette zugeführt. Im Karosseriebau haben wir ein Strategieprojekt, um auf den Einsatz von Druckluft verzichten zu können. Darüber hinaus werden Kunststoffe in allen Gewerken selektiert und dem Prozess wieder zugeführt. All diese Dinge finden sich auch in unserer Werkstrategie wieder.
Abschließend – was sind für Sie die drei größten Herausforderungen bis 2029?
Die größte Herausforderung wird die Umstellung auf Elektromobilität sein. Da sind wir auf dem Weg, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind qualifiziert und die Anlagen bereit. Für mich ist der Anlauf eines neuen Produkts vergleichbar mit Bergsteigen. Unser Rucksack ist gepackt, wir sind schon losgewandert, jetzt kommt der steile Aufstieg, der sehr anstrengend wird. Wenn wir dann aber gemeinsam oben stehen, wird das sehr motivierend sein und unsere Mannschaft weiter zusammenschweißen. Die zweite große Herausforderung wird das Umsetzen unserer Strategie am Standort sein und der Nachweis, dass wir auf dem Weg zum attraktivsten Werk der Welt voran kommen. Wir haben dafür ideale Voraussetzungen in Ingolstadt, jetzt müssen wir sie nutzen und unsere Ziele umsetzen. Am wichtigsten wird aber die Einbindung der Menschen sein. Die beste Strategie und das beste Produkt gelingen nur, wenn die Menschen voller Überzeugung dahinterstehen. Deshalb bieten wir verschiedene Beteiligungsformate und Informationsveranstaltungen für unserer Mitarbeitenden an und bereiten uns gemeinsam auf die neuen Produkte und unsere neue Standortstrategie vor.
Zur Person:
Siegfried Schmidtner, geboren 1971 in Ingolstadt, studierte Maschinenwesen mit Schwerpunkt Konstruktion und Entwicklung an der TU München. Danach promovierte er in Produktgestaltung und Prozesskettenplanung an der TU Chemnitz. Ab 1998 arbeitete er bei Audi in der Motoren- und Fahrwerksplanung. Er leitete die Fertigungsplanung für Sechs- und Acht-Zylinder-Motoren in Győr, Ungarn, und war später Leiter des Anlauf- und Analysezentrums für den Audi A3 in Ingolstadt.
Ab 2017 war Schmidtner als Projektleiter für Produktionsaktivitäten von Fahrzeug- und Plattformprojekten einschließlich Audi A4, A5 und Q5 aktiv. Ab November 2018 leitete er die Zentralfunktionen Produktion der AUDI AG und war verantwortlich für Strategie, Digitalisierung und Transformation im Bereich Produktion. 2019 übernahm er den Bereich Product Engineering, wo er für die Absicherung von Produktreife, Produktionsanläufe und Prototypen zuständig war.
Seit Dezember 2022 ist Siegfried Schmidtner Werkleiter am Standort Ingolstadt, verantwortlich für alle fertigungsrelevanten Bereiche und standortspezifischen Themen.