„Wir sind nicht mehr die coole Industrie. Wir sind auch nicht mehr die Industrie, die derzeit für Nachhaltigkeit steht“, bilanziert der Experte auf dem Automobil Produktion Kongress 2024 in München „Wir sehen, dass sich viele junge Leute von der Idee eines eigenen Fahrzeugs abwenden.“ Klar ist, dass Wandel in der Branche dringend notwendig ist. Doch dieser muss aktiv gestaltet werden. „Wenn Sie Marktführer sind, haben Sie immer das Problem, dass Sie Ihre Stärke in die Zukunft projizieren“, sagt Mehlfeldt. „Es fehlt der Unternehmung die Phantasie, wie eine andere Art der Unternehmung aussehen kann und aussehen muss.“
In einem Kerngeschäftsfeld Webastos, dem Glas, sehe man etwa ganz neue Anwendungsfälle durch neue Fahrzeugdesigns und smarte Funktionen rund um das Material. „Wir gehen davon aus, dass knapp 80 Prozent der Fahrzeuge in den nächsten zehn Jahren die ein oder andere Hightech-Anwendung erfahren werden“, erklärt der Webasto-Vorstand mit Blick auf die Glaselemente im Auto. Das klassische Klarglas werde dabei zunehmend zum Nischenprodukt. Stattdessen stelle man das eigene Geschäft derzeit eher auf schaltbare Verglasungen, Ambient-Oberflächen bis hin zu Solardächern um.
Damit steigt auch die Komplexität der jeweiligen Bauteile: „Sie sehen nicht mehr die einzelne Glasscheibe, wir reden teilweise von bis zu acht Layern, die dort zusammengebracht werden“, so Mehlfeldt. Doch wie gelingt es den Unternehmen, in diesem Bereich angesichts beschleunigter Entwicklungszyklen, der kritischen Lage der Zuliefererindustrie sowie der Konkurrenz aus China erfolgreich zu bleiben? Auf dem Automobil Produktion Kongress 2024 skizziert der Webasto-Vorstand fünf Maßnahmen für den künftigen Erfolg:
Veränderungen akzeptieren
Viele Unternehmen würden derzeit über Disruption sprechen, die wenigsten würde diese jedoch in der Realität willkommen heißen, so Mehlfeldt. Stattdessen seien in vielen Unternehmen Beharrungskräfte am Werk, die die Folgen des Wandels herunterspielen, um weiter auf traditionelle Stärken pochen zu können. „Wir müssen uns darüber klar werden, dass etwa die Geschwindigkeit, mit der der chinesischen Markt Innovationen in Serie bringt, eine andere Geschwindigkeit ist als wir uns das als deutsche Industrie vorstellen können“, so Mehlfeldt. Sein Rat: „Reden Sie nicht drum herum, gehen Sie rein!“
Radikalität im Denken
Entsprechend der schonungslosen Analyse der disruptiven Marktsituation in der Autobranche muss auch die Reaktion ausfallen. Die konservative und vorsichtige Herangehensweise der deutschen Industrie entwickele sich zunehmend zum Standortnachteil, sagt Jan Henning Mehlfeldt. China sei radikaler im Ansatz und reagiere deutlich schneller auf Kundenwünsche. Fahrzeugmodelle würden etwa binnen weniger Jahre bei Misserfolgen wieder gestrichen, um das Portfolio leistungsfähig zu halten.
Strategische Innovation sichern
Gleichzeitig gelte es für die deutschen Unternehmen, Klarheit darüber zu erlangen, welche Innovationen oder Funktionen den Kern eigener Innovation darstellen. Diesen gelte es zwingend zu beherrschen und zu stärken – mit Inhouse-Kompetenz ohne Abhängigkeit von externen Partnern. Insbesondere in der deutschen Autobranche sei das hohe Qualitätsversprechen ein internationaler USP, so Mehlfeldt. Dennoch sei es zwingend notwendig, parallel zur Qualität das eigene Entwicklungstempo zu erhöhen.
Geschwindigkeit aufbauen durch Übernahmen
Gelingen könne dies unter anderem durch Übernahmen von Unternehmen mit entsprechendem Knowhow, wie der Webasto-Vorstand anhand der eigenen Übernahme von Carlex deutlich macht. Am Markt sei vermutlich immer ein Konkurrent zu finden, der das eigene Produkt sowohl schneller als auch besser entwickeln und bauen könne. Den eigenen Zukauf von Carlex bezeichnet Mehlfeldt als „einzige Möglichkeit, die Geschwindigkeit zu erzeugen, die wir gebraucht haben.“
Entstanden ist aus der Zusammenlegung der Unternehmen Europas größtes Werk für Hightech-Glas, in dem jährlich rund 700.000 Fahrzeugdächer größtenteils automatisiert produziert werden. Bei der Zusammenlegung von Carlex mit Webasto habe man bewusst darauf geachtet, den Kern der Innovationskultur des Unternehmens zu bewahren. Unter anderem habe man mit Hilfe von Zweierteams aus der Belegschaft beider Unternehmen gegenseitiges Verständnis aufbauen und voneinander lernen können. Mehlfeldts Rat: „Wenn Sie schnell sein wollen und überzeugt sind, dass eine bestimmte Innovation, Technologie oder Kompetenz für Sie entscheidend ist, dann müssen Sie auch den Schritt gehen, diese Dinge zuzukaufen, wenn Sie im Haus nicht vorhanden sind.“
Mechatronisches Skillset aufbauen
Zu guter Letzt bilanziert Mehlfeldt den steigenden Anteil elektronischer Komponenten im Fahrzeug der Zukunft. Die Mechatronik erobere dabei zunehmend Bereiche, die traditionell mechanisch geprägt waren. „Wir haben hunderte, möglicherweise tausende mechanische Entwickler. Die sind keine Mechatroniker“, so der Webasto-Experte. Diese Belegschaft sei nun zunehmend mit elektronischen Systemen konfrontiert, etwa den Anschluss von Licht- oder Solar-Elementen im Fahrzeugdach. Als Unternehmen gelte es hier, den veränderten Fachkräftebedarf zu erkennen und zu adressieren, um die entsprechenden Kompetenzen aufzubauen und weiterzuentwickeln.