Die Herausforderungen der jüngeren Vergangenheit sowie der Gegenwart haben zwischen Automobilherstellern und Zulieferern eine Schere geöffnet: „Während die Automobilhersteller trotz Krisen derzeit prächtig verdienen, stehen viele Zulieferer mit dem Rücken zur Wand“, stellt Analyst Constantin M. Gall von der Beratungsfirma Ernst & Young fest. In den letzten Monaten kündigten unter anderem Bosch, ZF und Continental erhebliche Stellenstreichungen an, die von Experten auf die Auswirkungen der Coronapandemie und die Notwendigkeit zur Anpassung an neue Marktanforderungen zurückgeführt werden. Continental plant den Abbau von über 12.000 Stellen weltweit, während ZF bis zu 18.000 Arbeitsplätze in Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts reduzieren könnte, und Bosch meldete ebenfalls erhebliche Kürzungen.
„Professionelle Planung ist für Zulieferer entscheidend”
„Gleichzeitig befindet sich der Zulieferbereich in einem starken Wandel, nicht nur in Bezug auf Antriebstechnik sondern auch finanziell. Die hohen Zinsen sowie die gestiegenen Kosten für Rohstoffe und Strom stellen große Herausforderungen dar. In dieser Situation ist es entscheidend, dass Zulieferer professionell planen und genau auswählen, welche Geschäfte sie tätigen wollen und welche nicht“, weiß Strategieexperte Henner Lehne, Vice President Vehicle and Powertrain Group bei S&P Global Mobility. „Außerdem müssen sie in der Ausführung ihrer Projekte besonders effizient sein. Trotz der allgemeinen Marktvolatilität und der schwierigen Rahmenbedingungen könnten alle Zulieferer prinzipiell gute Geschäfte machen, vorausgesetzt, sie halten ihre Kosten und Strukturen unter Kontrolle und nutzen die Marktchancen effektiv.“
Unterdessen schreiten besonders die chinesischen Automobilhersteller mit einer unglaublichen Geschwindigkeit voran und schicken sich an, in einer nicht allzu fernen Zukunft auch die erfolgsverwöhnte deutsche Autoindustrie in den Schatten zu stellen. Dieser Entwicklung wollen europäischen Autobauer natürlich entgegenwirken, um nicht gänzlich von der asiatischen Konkurrenz abgehängt zu werden. „Sie überspringen traditionelle, langwierige Designprozesse, indem sie viel stärker auf digitale Technologien und Simulationsverfahren setzen. Dies ermöglicht es ihnen, Fahrzeuge in nur neun bis zwölf Monaten vom Entwurf bis zum Showroom zu bringen. Traditionelle Hersteller benötigen dafür oft drei Jahre oder länger“, erläutert Experte Lehne.
ZF verkauft 50 Prozent seiner Fahrwerksystemeinheit an Foxconn
Gerade für Zulieferer stelle dies eine Herausforderung dar, da sie ihre Entwicklungsprozesse anpassen müssten, um sowohl den schnelleren Rhythmus der neuen Hersteller als auch die langsameren, etablierten Prozesse der alten Auto-Player bedienen zu können, so Lehne. Dennoch betrachtet man die neuen Player aus Fernost aus Sicht der Zuliefererindustrie nicht nur als Kunden oder Wettbewerber, sondern auch als attraktive Kooperationspartner. Zulieferer ZF verkündete erst vor kurzem eine wichtige strategische Partnerschaft mit Elektronik-Auftragsfertiger Foxconn, der Teil des weltweit größten Elektronikproduzenten, der Hon Hai Technology Group aus Taiwan, ist.
Zum Stichtag am 30. April erwarb Foxconn 50 Prozent der Anteile an der ZF Chassis Modules GmbH, der Fahrwerksystemeinheit des Antriebsexperten. Die Beteiligung markiert damit den Start eines gemeinsamen Joint Ventures zum Ausbau strategischer Innovationen. Die somit gegründete ZF Foxconn Chassis Modules GmbH beliefert globale Premium- und Volumenhersteller, ist an 25 Standorten weltweit vertreten und beschäftigt rund 3.800 Mitarbeiter, davon knapp 100 in Deutschland. Das neue Unternehmen soll technologieoffen agieren und mit kontinuierlicher Prozessoptimierung eine größtmögliche Anpassung an Märkte und Vertragspartner erreichen. Durch die Zusammenarbeit will sich ZF weitere Ressourcen für profitables Wachstum, neue Kundenzugänge und zusätzliche Entwicklungsfelder über den wachsenden Kernmarkt Achssystemmontage hinaus sichern.
Für Foxconn eröffnen die Anteile an der ZF Chassis Modules GmbH mit einem Unternehmenswert von insgesamt rund einer Milliarde Euro wiederum neue Perspektiven im Automobilsektor. „Chinesische Autohersteller sind bei einer hohen Entwicklungsgeschwindigkeit gleichzeitig extrem technologieaffin und setzen neue Technologien früher ein als andere. Wir industrialisieren bereits heute eine Vielzahl unserer Neuentwicklungen zuerst in China und dann erst in Europa", erläuterte ZF-Vorstand Stephan von Schuckmann gegenüber dem Handelsblatt.
Kooperationen mit China eröffnen neue Potentiale
Neben etablierten Tier-1-Suppliern mit zehntausenden Beschäftigten suchen auch kleine und mittelständische Zulieferer ihr Heil im chinesischen Windschatten. Mitte April verkündete zum Beispiel die Voit-Gruppe, hauptsächlich bestehend aus dem Automobilzulieferer Voit Automotive, den Verkauf ihrer Unternehmensanteile an das chinesische Druckguss-Unternehmen Millison Technologies. Voit Automotive ist ein Unternehmen aus dem Saarland mit weltweit über 2.000 Mitarbeitenden, das seit 1947 Komponenten für Antriebstechnik und Assistenzsysteme im Aluminiumdruckguss fertigt.
Zudem blickt Voit auf eine langjährige Zusammenarbeit mit ZF zurück, die bereits 1995 begann. Trotz der Betriebsübernahme durch den chinesischen Tech-Player könnten laut saarländischem Wirtschaftsministerium alle Beschäftigten, davon etwa 1.000 im deutschen St. Ingbert, ihren Arbeitsplatz behalten. „Voit arbeitet trotz hoher Auslastung und eines attraktiven Kundenportfolios angesichts weltweiter Marktänderung weg vom Verbrennungsmotor an einer umfangreichen Transformation, die Partnerschaft mit Millison eröffnet völlig neue Perspektiven und Synergiepotential, das wir nutzen wollen“, kommentieren Hendrik Otterbach und Christopher Pajak, Geschäftsführer der Voit-Gruppe die Transaktion.
Doch was bedeuten Kooperationen dieser Art für den deutschen Industriestandort, der ohnehin geschwächt dasteht? „Das muss man immer aus zwei Perspektiven betrachten. Zunächst mal ist es sicherlich für den Industriestandort Deutschland immer gut, wenn deutsche Unternehmen international Erfolg haben. Das hilft natürlich dabei, deutsches Engineering und entsprechende Technologie weltweit zu vermarkten“, erklärt Fabian Brandt, Automotive-Experte bei der Strategieberatung Oliver Wyman.
„Der positive Effekt für die Beschäftigung in Deutschland dürfte dagegen minimal sein, da die zusätzliche Wertschöpfung Zuliefererindustrie stark lokalisiert ist. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen und die zunehmenden Handelsbarrieren verstärken diesen Trend, sodass wir in Zukunft wahrscheinlich noch stärker ein Local-for-Local-Geschäft sehen werden.“ Brandt glaubt, dass solche Partnerschaften in Deutschland kaum zusätzliche Beschäftigung und Wertschöpfung in der Produktion erzeugten.
Standing in China für deutsche Zulieferer unverzichtbar
Dennoch expandiert die chinesische Automobilindustrie ihrerseits verstärkt ins Ausland, beispielsweise mit ersten internationalen Fertigungsstandorten in Spanien, Ungarn oder Mexiko. Auch auf diesen Märkten würden die Chinesen verlässliche Partnerschaften suchen, für die sich deutsche Zulieferer anbieten. Darüber hinaus sieht Experte Brandt die Kooperation zwischen chinesischen Akteuren und europäischen Automobilzulieferern als große Chance, am Erfolg des riesigen und weiter wachsenden asiatischen Automobilmarktes teilzuhaben, der in den letzten 15 Jahren immer weiter an Bedeutung gewonnen hat. „Automobilzulieferer mit globalen Ambitionen haben gar nicht die Wahl, auf den chinesischen Markt zu verzichten. Das kann entweder im Huckepack der westlichen Marken gelingen oder indem sich die Unternehmen direkt an die chinesischen Hersteller als Kunden wenden", erklärt der Automobil-Fachmann.
Marktbeobachter Henner Lehne wünscht sich darüber hinaus auch innerhalb Europas mehr Teamgeist und Kooperation: „Ein gemeinsames Vorgehen in der europäischen Automobilindustrie wäre ähnlich wie in großen Einzelmärkten wie den USA oder China absolut sinnvoll. In Europa könnten wir von einer stärkeren Kooperation profitieren, insbesondere im Bereich der Einstiegsmobilität.“