Kristian Kozole, Siemens

Kristian Kozole ist Vice President Automotive bei Siemens Digital Industries Software. (Bild: Siemens)

Kristian Kozole ist seit dem 1. Dezember 2024 Vice President Automotive bei Siemens Digital Industries Software. In dieser Funktion verantwortet er die Software-Sparte in einem Unternehmen, das sich in den vergangenen Jahren vom klassischen Automatisierungsspezialisten zu einem der führenden Anbieter industrieller Digitalisierungs- und Engineeringlösungen entwickelt hat. Kozole bringt für diese Rolle eine breite Perspektive mit – technisch versiert, strategisch geschult und mit tiefem Verständnis für die Herausforderungen der Industrie.

Sein Weg begann mit einem Studium der Elektrotechnik, ergänzt durch IT und klassische Automatisierungstechnik. Schon früh faszinierte ihn die Softwarewelt – insbesondere, wie sie industrielle Prozesse verändern kann. „Zu der Zeit hatte Siemens noch keine wirkliche Software-Sparte – das war 2004/2005“, erinnert sich Kozole. Er wechselte zu zwei NASDAQ Softwareunternehmen und beobachtete aufmerksam, wie Siemens 2007 mit der Akquisition von UGS begann, strategisch in Software zu investieren – etwa in innovative Lösungen wie Tecnomatix, Teamcenter oder NX.

Automobil Produktion Kongress 2025

Automobil Produktion Kongress 2025

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2014 folgte schließlich der Wechsel zu Siemens. „Ich habe das einige Jahre beobachtet und mich entschieden, dass es kaum etwas Besseres geben kann, als in einem Softwarekonzern unter deutscher Führung zu arbeiten“, sagt Kozole. Seitdem begleitet er die Digitalstrategie des Konzerns und war in den vergangenen zehn Jahren direkt an zahlreichen Übernahmen beteiligt – zuletzt an der Integration von Altair, einem Unternehmen für AI-powered Engineering Design und Simulation. Er hat seinen ingenieurwissenschaftlichen Hintergrund durch ein berufsbegleitendes MBA-Studium ergänzt. „Früher dachte ich als Ingenieur, es gibt nur 0 oder 1. Heute weiß ich, es gibt auch Zwischenstufen.“ Mit dieser Mischung aus technischem Verständnis und wirtschaftlichem Denken gestaltet er heute eine der dynamischsten Phasen der Automobilindustrie aktiv mit – an der Schnittstelle von Entwicklung, Fertigung und Digitalisierung.

Im Interview am Rande der Hannover Messe erklärt Kozole, wie Siemens mit mehr als 40 Akquisitionen, KI-getriebenem Engineering und offener Kollaboration die Produktion neu denkt – und warum Roboter bei Audi jetzt virtuell gesteuert werden.

Ein zentrales Stichwort bei Siemens ist der „Comprehensive Digital Twin“. Was verstehen Sie darunter?

Wenn andere vom Digital Twin sprechen, meinen sie meist ein rein geometrisches bzw. mechanisches Modell (2D/3D). Unser „Comprehensive Digital Twin“ umfasst zusätzlich Fertigungsinformationen – Toleranzen, Abrundungen – und vereint Mechanik, Elektronik und Software. Wir nennen das den „Digital Core“, um Innovation schnell zu realisieren Diese drei Domänen vernetzen wir modellbasiert, etwa über einen Produktkonfigurator, die Engineering-Stückliste (EBOM) und legen ein übergreifendes Änderungsmanagement darüber. Das erlaubt uns werksspezifische Ableitungen mit den passenden Arbeitsplänen. Diese Echtzeit-Vernetzung ist entscheidend für das Komplexitätsmanagement. Wir gehen weg von physikalischen Systems-Engineering-Meetings hin zur digitalen Kollaboration. Zusätzlich fügen wir dem Digital Twin auch Kosteninformationen, CO₂-Footprint und physikalische Eigenschaften hinzu – von Akustik über Fahrdynamik bis zur Haltbarkeit. Im Grunde genommen können wir jeden Engineering relevanten Parameter im Kontext des einzelnen Teils / Systems aber auch der verwendeten Strukturen verwalten und berücksichtigen. Insgesamt können wir über 20 Simulationsdomänen abbilden und im Kontext simulieren, Stichwort „Performance Engineering. So entsteht ein „Physics-based Comprehensive Digital Twin“.

Und das gilt nicht nur für das Produkt, sondern auch für die Fertigung?

Genau. Wir verknüpfen alles entlang des „Digital Thread“ – vom ersten Produktentwurf bis zum SOP. Das Gleiche machen wir auch für die Fertigung: komplette Hallen, Maschinen, Materialflusssimulation, Durchsatz. Echtzeit-Änderungen am Produkt in der Designphase lassen sich direkt auf die Fertigung projizieren. Im Grunde handelt es sich herbei um die Basis für das Industrial Metaverse, wo alle diese Informationen und Daten dann in einem visuellen Raum dargestellt, ergänzt und für Impact-Analysen verwendet werden können.

Haben Sie ein Beispiel, wie sich das in der Praxis auswirkt?

BYD, der größte EV-Hersteller der Welt, startete im sogenannten Brownfield, also mit vielen bestehenden Tools. Sie hatten hohe Integrationsaufwände zwischen den Domänen. Wir verbinden diese digital, auch domänenübergreifend. Das Ergebnis: 25 Prozent kürzere Entwicklungszeit – betriebswirtschaftlich enorm relevant. Wer schneller am Markt ist, hat einen Vorteil.

Gilt das auch für Zulieferer?

Absolut. Wir setzen nicht nur auf interne Digitalisierung, sondern auch auf offene Kollaboration – etwa den Austausch virtueller Modelle. Unsere Toolchain ist offen. Kunden müssen nicht alles ersetzen, um auf uns umzusteigen. Ein weiteres Beispiel: OPmobility, ein börsenotierter französischer Automobilzulieferer hat seine gesamte PLM-Toolchain mit Teamcenter X in die Cloud verlagert – etwa für Kunststoff-Karrosserieaußenteile. Änderungsmanagement ist hier entscheidend. Wie schnell kann ich als Zulieferer auf OEM-Anpassungen reagieren?

Das erklärt auch die Namensgebung von „Siemens Xcelerator“?

Genau. Daher kommt das X im Namen – es steht für die Verbindung der Domänen und die Beschleunigung von Unternehmensprozessen.

Ein anderes Topthema ist das Software Defined Vehicle. Wie ist Siemens hier aufgestellt?

Die Software-Welt tickt anders als die klassische Fahrzeugentwicklung. Deshalb haben wir gemeinsam mit Accenture eine neue Siemens-Division gegründet – mit 7000 Beratern. Mit dem Siemens Xcelerator Portfolio können wir SDV ganzheitlich betrachten – je nach Kundenbedarf. Beispiel: Wir können Städte wie München als digitales Modell abbilden, inklusive Ampeln, Straßen, etc., und darin Fahrzeuge simulieren. Dazu kommt die EE-Architektur mit zonalen Steuergeräten. Wichtig wird auch das Chipdesign – gerade für autonomes FahrenWir kooperieren u.a. mit AMD und NVIDIA, um Realtime-Fähigkeiten sicherzustellen Entscheidend sind dabei Aspekte wie Latenzzeiten aber auch die Fähigkeiten wie Over-The-Air Updates später durchführen zu können.

Und das geht bis zur vollständigen vertikalen Integration?

Genau. Wir haben einen durchgängigen System-Engineering-Ansatz – von der Sensorik über das Chipdesign bis zur virtuellen Gesamtmodellierung. OEMs können dabei wählen: setze ich auf kamerabasierte, lidar-basierte oder hybride Sensorlösungen?

Sie haben KI bereits erwähnt. Welche Rolle spielt sie bei Siemens?

Eine sehr große. Sie ist fester Bestandteil unserer DNA. Im CTO-Office von Peter Körte arbeiten über 1500 Menschen an KI. Wir haben ein eigenes AI-Lab am Münchner Ostbahnhof, in dem wir gemeinsam mit Kunden konkrete KI-Anwendungsfälle und deren Potentiale identifizieren und ausarbeiten. Unsere Strategie lautet: Alle Produkte sind AI-enabled. Beispiel: In NX lernt eine KI, wie der User konstruiert. Nach kurzer Zeit schlägt sie eigenständig nächste Schritte vor. Das steigert die Produktivität um bis zu 25  Prozent. Auch bei der Klassifikation von Bauteilen hilft KI – um Doppelentwicklungen zu vermeiden. Zusätzlich arbeiten wir mit Chatbots, Co-Pilots aber auch AI Agents, inklusive Master Agents, die andere Agents steuern und Softwarezugriffe ermöglichen. In der Zukunft geben Sie als Nutzer nur noch Parameter vor – etwa für einen elektrischen Antriebsstrang – und die Software entwickelt automatisiert die passende Lösung. Wir nennen das „Brand Engineering“ – Unternehmen definieren ihre Werte wie Qualität oder Nachhaltigkeit und setzen sie systematisch um.

Thema Robotik und Automatisierung. Was zeigt Siemens in diesem Bereich?

Historisch gesehen haben wir mit Tecnomatix die Fähigkeit erworben, Roboter herstellerunabhängig zu simulieren – Taktzeiten, Aufgabenverteilungen, Roboterkonstellationen, alles lässt sich analysieren. Wir simulieren auch Kinematik – wie sich Roboter bewegen, wann sie zu schwingen beginnen, z. B. bei Schweißnähten. Letzte Woche haben wir gemeinsam mit Audi die „virtuelle SPS“ angekündigt – eine softwarebasierte Steuerungseinheit, die physische Boxen ersetzt und Softwareupdates erheblich vereinfacht. Weil wir diese Steuerung virtualisieren, lassen sich AI-Funktionalitäten direkt integrieren. Darüber hinaus sind wir stark in der Qualitätssicherung aktiv – bei OEMs und Zulieferern. Wir verbinden SCADA- und Automatisierungstechnik mit IT-Systemen und schaffen eine durchgängige Brücke zwischen physischer und digitaler Welt.

Und das geht noch weiter Richtung „Industrial Metaverse“?

Richtig. In Zusammenarbeit mit Partnern wie AWS, Accenture und Microsoft visualisieren wir ganze Fabriken im „Industrial Metaverse“. Dank Siemens Xcelerator lassen sich komplette Fertigungslinien in Echtzeit abbilden. Besonders spannend: Der digitale Zwilling kann der realen Welt voraus sein. Wenn zum Beispiel morgens fünf Mitarbeitende ausfallen, kann der Schichtleiter simulieren, welche Aufträge noch machbar sind. Dank unseres Digital Logistics Portfolios lassen sich auch Logistikströme inner- und außerbetrieblich simulieren – inklusive Transportkosten und CO₂-Footprint. Große Dienstleister wie DHL und Dachser nutzen unsere Lösungen – aber eben auch Unternehmen aus der Automobilbranche wie Daimler, Volkswagen oder Ford.

 

Also kein Inseldenken, sondern Plattformstrategie?

Ganz genau. Wir verstehen uns nicht als Inselanbieter, der Mauern hochzieht. Wir verfolgen einen ganzheitlichen Ansatz und überlegen gemeinsam mit dem Kunden, wo wir konkret Mehrwert stiften können – individuell und mit Skaleneffekten verbunden. Zusammengefasst: Unsere Xcelerator-Plattform ist offen, skalierbar und hebt sich dadurch von anderen Wettbewerbsprodukten ab. Neben der Offenheit gegenüber anderen Systemen, der Nutzung von Standards und der Skalierbarkeit je nach Kundenszenario, sehen wir vor allem die Personalisierung und User Experience als zentrale Elemente. Unsere No-Code/Low-Code-Plattform Mendix schlägt notwendige Brücken zwischen unseren bestehenden Engineering-Applikationen und den spezifischen Anwendungsszenarien einzelner Nutzergruppen – und das weit über das Engineering oder dem Shopfloor hinaus. Dies erhöht schnell die Anwenderzufriedenheit und ermöglicht notwendige Spezialisierungen in einem dennoch standardisierten IT-Umfeld.

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