
In volatilen Zeiten ist es für BMWs Cheflogistiker Michael Nikolaides extrem wichtig, schnell Entscheidungen zu treffen: "Wenn die Welt da draußen täglich schwankt, hilft es nicht, jeden Monat mal einen Ausschuss einzuberufen." (Bild: BMW)
Herr Nikolaides, hat sich die automobile Lieferkette nun wirklich stabilisiert?
Ja, ich denke, insgesamt ist eine Stabilisierung gegenüber den Zeiten zu erkennen, die wir während Corona und der Halbleiterknappheit erlebt haben. Die allgemeinen Schwankungen werden geringer, aber es gibt immer noch viele Unterbrechungen. Ein Beispiel dafür ist die Krise am Roten Meer. Das war eine Störung, die uns wirklich überrumpelt hat. Von einem Tag auf den anderen mussten wir unser gesamtes Material und alle Fahrzeuge vom Roten Meer durch ganz Afrika umleiten. Im Großen und Ganzen hat sich die Lage also stabilisiert. Sind die guten alten Zeiten wieder da? Nein. Und wird es in naher Zukunft wieder so sein? Ich hoffe es, aber ich glaube es nicht.
Wie gehen Sie funktionsübergreifend mit Störungen in der Supply Chain um?
Ich glaube, es gibt drei Faktoren, die uns zum Erfolg verholfen haben – und das in einer sehr unbeständigen Gemengelage. Der erste Faktor, über den man sich sehr früh Gedanken machen muss, ist das Design. Wie bauen Sie Ihr System auf? Wenn man flexibel ist, wird sich das in unbeständigen Zeiten auszahlen. Und wir versuchen, die Gestaltung der Lieferkette mehr und mehr aus einer Programm- und Volatilitätsperspektive zu beeinflussen. Das ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Das zweite Kriterium, das sich in den letzten fünf Jahren wirklich verändert hat, ist die Digitalisierung und die Datengenauigkeit sowie die Nutzung von künstlicher Intelligenz und Algorithmen, um die relevanten Informationen aus den riesigen Datenmengen da draußen zu extrahieren. Und drittens muss man die richtigen Leute zusammenbringen, sie befähigen, Entscheidungen zu treffen, und dann alle relevanten Aspekte auf den Tisch bringen, damit man schnell Entscheidungen treffen kann. Denn wenn die Welt da draußen täglich schwankt, hilft es nicht, wenn man jeden Monat mal einen Ausschuss einberuft.
Bedeutet zunehmende Digitalisierung auch eine stärkere Konzentration auf Cybersicherheit?
Ja, sicher, sie wird immer wichtiger. Wir können feststellen, dass die Zahl der Angriffe und Angriffsversuche auf die Branche zunimmt. Das spielt also eine sehr wichtige Rolle für uns, um relevante Daten zu stabilisieren und zu schützen. Und dann muss man eben dafür sorgen, dass jeder die Bedeutung der Cybersicherheit versteht. Denn wenn man sich all die Beispiele ansieht, bei denen etwas schiefgelaufen ist, dann war es in den meisten Fällen menschliches Versagen, weil meistens das Wissen nicht vorhanden war. Wir arbeiten eng mit unseren Zulieferern zusammen und versuchen, sie zu schulen. Das ist wirklich wichtig.
Inwiefern spielt dabei das Datenökosystem Catena-X ein Rolle?
Catena-X ist ein großartiges Beispiel dafür, wie wir versuchen, zu standardisieren. Denn wenn jeder OEM seine eigene Lösung mit jedem Lieferanten hat, wird das nicht funktionieren. Bei Catena-X geht es einfach darum, einen gemeinsamen Standard zu schaffen, und natürlich muss man auch an die Cybersicherheit denken.
Welche Strategie verfolgen Sie in Sachen Lokalisierung?
Wir versuchen schon in einem sehr frühen Stadium, uns die Belastbarkeit unserer Lieferkette anzuschauen. Letztendlich ist es so, dass man an dem Standort, an dem man seine Autos herstellt und seine Teile in der Nähe produzieren lässt, stabiler ist, als wenn man sie über den ganzen Globus verteilt. Wir versuchen immer, unsere Entscheidungen auf Grundlage der Gesamtkosten zu treffen, und zwar nicht nur die Teilekosten, sondern auch die Logistikkosten. Wir versuchen zu berücksichtigen, wie hoch das Risiko ist, und überlegen, ob es vielleicht sogar belastbarer ist, einen Lieferanten in der Nähe zu haben, anstatt einfach das Best-Cost-Land zu wählen. In Deutschland gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass die billigste Lösung auf lange Sicht nicht unbedingt die beste ist. Man muss das abwägen.


Sind die guten alten Zeiten wieder da? Nein. Und wird es in naher Zukunft wieder so sein? Ich hoffe es, aber ich glaube es nicht.
Ist die Lokalisierung in der E-Auto-Lieferkette schwieriger, da die Rohstoffe und Materialien sehr schwer zu beschaffen sind?
Das kommt darauf an. Hier muss man mit seinen Zulieferern zusammenarbeiten, und ich denke, die Hersteller von Batteriezellen verstehen das und versuchen, in anderen Regionen der Welt zu lokalisieren, nicht nur in China.
Wie helfen Sie bei der Gestaltung des Produktionsnetzes und wie weit im Voraus müssen Sie sich mit den Modellplänen befassen?
Wenn man frühzeitig die richtigen Entscheidungen im Hinblick auf die Resilienz trifft, kann man viel effizienter mit Schwankungen umgehen. Das ist einer der Erfolgsfaktoren und das ist der Grund, warum wir das in einer Abteilung zusammengefasst haben. In meinen Zuständigkeitsbereich fällt die Gestaltung der Lieferkette, auf die wir wirklich großen Einfluss haben, nicht nur im Einkauf, sondern auch im Produktionssystem. Wenn man weiß, was heute passiert, dann trifft man in fünf Jahren vielleicht andere Entscheidungen. Das ist ein organisatorischer und struktureller Vorteil, den wir haben.
Werden viele dieser Entscheidungen ganzheitlich umgesetzt, zum Beispiel im ungarischen BMW-Werk in Debrecen, wo die Neue Klasse produziert werden soll?
Wie unser Einkaufsvorstand Joachim Post schon sagte, ist unsere Top-Strategie die Lokalisierung und 'local for local'. Was die Werksvergabe angeht, so praktizieren wir das schon seit Jahrzehnten. Wir wollen also Autos so weit wie möglich in den Märkten produzieren, in denen wir sie verkaufen, was auch den Aufwand für den Transport in die ganze Welt reduziert, was wiederum gut für Nachhaltigkeit und Resilienz ist. Man muss clevere Lösungen für sein Produktionssystem finden, denn als Hersteller mit überschaubarem Output hat man nicht einen einzigen Plan für jeden einzelnen Schlüsselbereich, sondern muss flexible und effiziente Lösungen finden. Das ist der Schlüssel. Je früher man das versteht und je früher man versucht, es umzusetzen, desto einfacher wird es. Das hilft auch bei der E-Auto-Logistik, denn das Grundprinzip ist, die Produktion und die Lieferkette so nah wie möglich am Endmontageort zu haben. Das ist hilfreich, denn Batterien sind schwer zu transportieren, sie sind riesig, und das verbessert nicht unbedingt die Ausfallsicherheit.
Wie können digitale Zwillinge helfen?
Was wir damit versuchen zu implementieren, ist die komplette Intralogistik, und das können wir zum Beispiel in unserem Werk in Debrecen tun. Dort testen wir autonome Transporte von Energiemodulen von der Produktion zur Montagelinie. Dann könnte man weiterdenken und versuchen, dort Lieferketten zu simulieren. Im Moment konzentrieren wir uns auf die Intralogistik.
Zur Person:

Michael Nikolaides leitet seit Februar 2022 das Supply Chain Management der BMW Group. Er verantwortet alle Logistikfunktionen sowie die Werkszuordnung und Programmplanung für das globale Produktionsnetzwerk. Dazu gehören die langfristige Netzwerkgestaltung, die Verpackung, die Verantwortung für Partnerwerke, die Lieferung nach Übersee, die Fahrzeugdistribution und die Digitalisierung der Lieferkette. Nikolaides kam 2004 zu BMW und war in verschiedenen Funktionen in den Bereichen Produktion, Programmmanagement und Strategie tätig, zuletzt als Senior Vice President Engines & E-Powertrain. Er studierte Physik an der Technischen Universität München sowie der Harvard University in Boston, Massachusetts und hat einen Doktortitel in Physik.
Dieses Interview erschien ursprünglich bei unserem englischen Schwestermagazin automotive logistics. Das englische Original finden Sie hier.