
Sindelfingen gilt als Zentrum für Luxus, Individualisierung und technologische Innovation im Produktionsverbund der Stuttgarter. (Bild: Mercedes-Benz)

Sindelfingens Werkleiterin Sara Gielen ist als Referentin dabei, wenn sich am 15. Mai hochrangige Fach- und Führungskräfte auf dem Automobil Produktion Kongress 2025 in München treffen, um über die Automobilfertigung der Zukunft zu sprechen. In ihrer Keynote zeigt Gielen, wie das Werk Sindelfingen die Zukunft der Automobilproduktion mitgestaltet, ohne dabei seine Traditionen aus den Augen zu verlieren. Zentrale Erfolgsfaktoren sind dabei Digitalisierung, Nachhaltigkeit und vor allem Flexibilität. 🎫 Jetzt Ticket sichern!
2024 musste Mercedes-Chef Ola Källenius mit Blick auf die Absatzzahlen der EQ-Modelle einräumen, dass der Hochlauf der Elektromobilität stockt und er dem Verbrenner deshalb wohl länger die Treue halten muss, als er es bislang geplant hatte. Während Vertriebschefin Britta Seeger deshalb ordentlich ins Schwitzen gekommen sein dürfte, blieb ihr Kollege Jörg Burzer entspannt. Denn als Produktionsvorstand ist er auch Hausherr der Factory 56 in Sindelfingen und kann zumindest dort allen Schwankungen des Marktes gelassen entgegensehen.
Das noch während des ersten Weltkrieges von der „Daimler-Motoren-Gesellschaft“ zur Flugzeugproduktion gegründete Mercedes-Benz-Werk im südwestlich von Stuttgart gelegenen Sindelfingen ist die traditionsreichste und zugleich flächenmäßig größte Produktionsstätte des schwäbischen OEMs. Seit den 1920er Jahren und dem Zusammenschluss mit der Automobilfirma Benz entstehen in der „Mercedes-Stadt“ Karosserien für die unterschiedlichsten Modelle der Ober- und Luxusklasse.
Mit Blick auf E-Autos und Verbrenner, die in der Factory 56 gemeinsam vom Band laufen, sagt Burzer: „Keine andere unserer rund 30 Fabriken weltweit ist so flexibel.“ Trotz Anpassungen im Schichtbetrieb oder schwankender Markttrends bleibt Sindelfingen für Mercedes-Benz ein zentraler Innovationsstandort. Das Werk steht nicht nur für traditionsreiche Fahrzeugproduktion, sondern auch für kontinuierliche Weiterentwicklung. Jüngstes Beispiel dafür ist der Neubau einer hochmodernen Lackieranlage – ein ambitioniertes Großprojekt, das sowohl technologisch als auch ökologisch neue Maßstäbe setzen soll.
Mercedes investiert in "Next Generation Paintshop"
Werkleiterin Sara Gielen betont die strategische Bedeutung des Projekts, das als „Next Generation Paintshop“ die Digitalisierung und Dekarbonisierung der Produktion weiter vorantreiben soll. Der Automobilhersteller investiert in Sindelfingen einen hohen dreistelligen Millionenbetrag in die rund 170.000 Quadratmeter große Halle, die auf dem Areal einer abgerissenen Montagehalle entsteht – ein anspruchsvolles Brownfield-Projekt, das gemeinsam mit dem langjährigen Partner Dürr realisiert wird und 2028 in Betrieb gehen soll.
Die neue Lackieranlage steht ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit. Sie nutzt Recycling-Beton der alten Halle als Baugrundlage, energieeffiziente Lackierkabinen, eine umfassende Abluftreinigung, Photovoltaikflächen und ein intelligentes Wärmeverbundnetz, das bis zu 50 Prozent Energieautarkie ermöglichen soll. Der Wasserverbrauch soll ebenfalls um die Hälfte sinken. Auch digital will Mercedes Maßstäbe setzen: Mithilfe von Nvidias Omniverse, einem digitalen Zwilling und generativer KI aus dem Werk Rastatt soll der Hochlauf der Anlage besonders schnell und effizient erfolgen. Zudem wird die neue Anlage in das digitale Produktionssystem MO360 integriert, das unter anderem die Steuerung der 250 Lackierroboter übernimmt. Die Überwachung der Gebäudetechnik und des Energieflusses erfolgt durch KI-basierte Systeme.

Sindelfingen setzt auf maximale Flexibilität
Am Rande des Stammwerks für rund 700 Millionen Euro gebaut und zum Start der neuen S-Klasse im September 2020 mit einer Jahreskapazität von 150.000 Fahrzeugen im 15-Wochenschichten-Betrieb eröffnet, bauen in der Factory 56 2.400 Mitarbeiter die Luxusmodelle der Schwaben – und machen dabei keinen Unterschied zwischen langer oder kurzer S-Klasse, dem extralangen Maybach oder eben dem auf einer Elektroplattform konstruierten EQS.
„Zwei Architekturen, vier Karosserievarianten und dann auch noch Diesel, Benziner , Plug-in-Hybrid und batterieelektrische Fahrzeuge und das alles auf einen Band – das bedeutet für uns maximale Flexibilität“, sagt der Produktionschef Mercedes-Benz Cars, Michael Bauer, der zuvor als Werkleiter Sindelfingen maßgeblich an der Umsetzung der Factory 56 beteiligt war. Und er setzt sogar noch einen drauf: Denn auch wenn die Factory 56 per se die Heimat der Kronjuwelen ist, könnte sie bei Bedarf sogar A- oder C-Klassen produzieren, GLE oder SL und müsste dafür nicht monatelang umgebaut werden.
Weil alle aufwändigen Produktionsschritte wie die Hochzeit oder der Einbau des Cockpits auf den Roboterschlitten der so genannten TecLines erfolgen und dort problemlos individualisiert werden können, laufen die Förderstrecken vom jeweiligen Modell unbenommen in ihrem eigenen Takt. Für die Mitarbeitenden macht es demnach keinen Unterschied, ob sie einen Radsatz an eine S-Klasse schrauben oder an einen GLA. Nur brauchen sie dafür natürlich immer die richtigen Teile.
Zukunftswerkstatt und Manufaktur an einem Standort
Und genau diese Teileversorgung ist es, die erst die maximale Flexibilität ermöglicht. Denn schon mit S-Klasse und EQS alleine ist die Komplexität hier größer als überall sonst, sagt der Hausherr angesichts der viele Optionen und Komponenten, die eingebaut werden müssen: „Das kann kein Mensch auseinanderhalten.“ Muss er auch nicht. Denn darum kümmert sich ein vollständig automatisiertes Teilewesen, das auf 400 autonomen Transportameisen fußt, die ständig mit einer Art Einkaufswagen durch die langen Flure fahren.
Von den Kollegen in den Bevorratungsstationen nach elektronischer Anleitung manuell bestückt, schaffen sie darin immer genau jene Teile zu jener Station, die für ein bestimmtes Auto benötigt werden, erläutert Bauer und freut sich, dass so auch das komplizierteste Puzzle beherrschbar wird. Dumm nur, dass er die Rechnung ohne die Oberklasse-Kundschaft und ihre Sonderwünsche gemacht hat: Denn natürlich gibt es genügend Interessenten, die eine S-Klasse oder einen EQS und erst recht einen Maybach nicht von der Stange kaufen und deshalb drüben im Center Of Excellence ihre ganz eigene Konfiguration kreieren.
Genau wie bei den sondergeschützten Panzerlimousinen der Guard-Familie werden die Autos dann am richtigen Punkt aus der normalen Produktion rausgeschleust und von 250 Manufaktur-Mitarbeitern von Hand veredelt. Und das kann dauern. Denn während eine S-Klasse in der Factory 56 nach acht Stunden fertig ist, brauchen die Sattler hier allein für das Beledern einer Sonnenblende oder eines Lenkrads schnell mal zwei Stunden. Paloma Cury, Leiterin der Manufaktur, bringt nicht nur jahrzehntelange Berufserfahrung mit, sondern auch eine persönliche Geschichte, die eng mit dem Manufakturgedanken verwoben ist. Aufgewachsen in Brasilien in einem Familienunternehmen der Textilbranche, ist sie mit Stickmaschinen, Materialien und Design groß geworden – und sieht ihre heutige Aufgabe daher nicht als Beruf, sondern als Berufung.

Manufaktur will Persönlichkeiten der Kunden abbilden
Im Gespräch mit der Automobil Produktion hebt sie die emotionale Bedeutung der Individualisierung hervor: Die Manufaktur verstehe sich als Plattform, auf der Kundinnen und Kunden ihre Persönlichkeit, ihren Lebensstil und ihren ästhetischen Anspruch zum Ausdruck bringen können – durch maßgeschneiderte Materialien, Farben und Details. Besonderen Wert legt Cury auf die Verbindung von Tradition und Innovation: „Wir wollen unsere Handwerkskunst bewahren und gleichzeitig neue Technologien wie KI-gestützte Qualitätskontrolle und automatisierte Prozesse integrieren.“ Ihr Kollege und Projektleiter für Individualisierung und Limited Editions Julian Schweitzer führt durch die einzelnen Stationen und Prozesse der Manufaktur, um einen besseren Einblick in das Beste aus beiden Welten zu gewähren.
So zum Beispiel durch das Lederlager, einem Ort, an dem Vielfalt sichtbar und spürbar wird. Über 3.000 verschiedene Farben stehen zur Verfügung und die Farbpalette wird sukzessive ausgeweitet. Jedes Lederstück wird sorgfältig auf Struktur, Beschaffenheit und mögliche Unregelmäßigkeiten geprüft. Mithilfe eines digitalen Stifts und KI-gestützter Systeme werden selbst kleinste Abweichungen erkannt, bevor das Material in sogenannte A-, B- oder C-Zonen eingeteilt wird. Diese Einstufung entscheidet darüber, ob ein Lederteil beispielsweise im Sichtbereich eines Armaturenbretts oder an einer weniger prominenten Stelle verarbeitet wird. Im Cutting-Bereich übernehmen präzise Lasercutter den Zuschnitt der markierten Zonen. Hier verbinden sich Effizienz und Fingerspitzengefühl: Obwohl Maschinen die Umrisse schneiden, bleibt die finale Kontrolle eine Aufgabe für erfahrene Hände.
Acht Stunden Produktionszeit für ein Lenkrad
Es folgt die Stickerei, in der sich die Individualisierung besonders deutlich zeigt. Bis zu 600 Stiche pro Minute setzen die Maschinen, um etwa Logos, Initialen oder komplexe Ornamente einzuarbeiten. Einige Muster benötigen mehrere Stunden bis zur Fertigstellung. Auch klassische Techniken wie Ton-in-Ton-Stickungen oder aufwendige Patch-Arbeiten finden hier ihren Platz. Ein weiterer zentraler Bereich ist die Lenkradfertigung. Jedes Lenkrad – ob in klassischem Leder, in einer Holz-Leder-Kombination oder mit Carbon-Elementen – wird von Hand gefertigt. Die Nähte sind auf den jeweiligen Fahrzeugtyp abgestimmt, zum Beispiel in sportlich-markanter Ausführung für AMG-Modelle oder mit dezent gesetzten Ziernähten für die S-Klasse. Je nach Ausstattung und Ausführung kann die Fertigung eines einzelnen Lenkrads bis zu acht Stunden in Anspruch nehmen. Da für bestimmte Prozessschritte keine Standardwerkzeuge existieren, stellt das Team eigene Vorrichtungen her, berichtet Schweitzer.
Im Studio live dabei bei der Veredelung
Im Bereich der Prägung werden Leisten, Lederflächen und Dekorelemente mit Schriftzügen oder Symbolen veredelt – auf Wunsch auch mit individuellen Familienwappen oder Monogrammen. Neben klassischen Verfahren kommt hier auch das innovative PixelPaint-Verfahren zum Einsatz, bei dem mithilfe einer Art Tintenstrahldruck hochpräzise Lackierungen direkt auf die Karosserie aufgebracht werden können – ideal für Sonderlackierungen oder kontrastreiche Designelemente.
Die Näherei schließt den Fertigungsprozess ab. Hier laufen viele der zuvor vorbereiteten Elemente zusammen: Lederbezüge, gestickte Flächen, geprägte Zierleisten. Die einzelnen Komponenten werden zusammengeführt, verklebt, vernäht – oft in mehreren Durchgängen und immer unter händischer Qualitätskontrolle. Besonders aufwendig sind Komponenten wie der Dachhimmel der Maybach-Modelle, der aus vielen Einzelteilen besteht. Diese werden einzeln positioniert, manuell vernäht und anschließend exakt in das Fahrzeug eingepasst.
Ergänzt wurde die Manufaktur Ende 2024 durch ein neues Manufaktur Studio, in dem Kunden und Kundinnen hautnah miterleben, wie das Fahrzeug nach ihren individuellen Wünschen ausgestattet wird. „In unserem neuen Manufaktur Studio im Herzen des Sindelfinger Werksgeländes bieten wir unseren Kundinnen und Kunden einen exklusiven Bereich für ein Produkterlebnis mit dem höchsten Individualisierungsgrad. Mit dem Ausbau der Manufaktur Erlebnisse entwickeln wir den Standort und das Qualitätssiegel ‚Made in Sindelfingen‘ strategisch weiter“, kommentiert Burzer zur Eröffnung im Dezember. Im Rahmen der Eröffnung des Manufaktur Studios wurde das PixelPaint Verfahren erstmalig vorgestellt.
Factory 56 so groß wie 30 Fußballfelder
Während die Manufaktur in andere Bereiche des Stammwerks ausgelagert ist, arbeiten alle anderen in der Factory 56 unter einem Dach – und das ist eines der größten in der Mercedes-Welt: Die Halle hat schließlich mit 220.000 Quadratmetern Fläche Platz für 30 Fußballfelder, der Stahl in der Trägerkonstruktion hätte fast für einen zweiten Eifelturm gereicht und die längste Achse ist mit rund 800 Metern so lang, dass die Mitarbeiter mittags mit einem Foodtruck versorgt werden, weil der Weg zur Kantine zu viel Pausenzeit kosten würde. Bauer rühmt zudem die Arbeitsatmosphäre: Es ist für eine Automobilfabrik ungewöhnlich leise, weil es zugunsten der Flexibilität mehr Menschen gibt als Maschinen und es ist dank der riesigen Dachfenster überdurchschnittlich hell in der Halle. Das zahlt freilich auch aufs Umweltkonto ein, sagt der Standortchef. Schließlich will die Factory 56 nicht nur die flexibelste sein im Verbund, sondern auch die nachhaltigste.
Das beginnt beim Ab- und Regenwasser, das so gründlich gefiltert wird, dass es gleich hinter dem Haus in einen Bach fließt und führt bis zu den 12.000 Solarmodulen auf dem Dach, die an guten Tagen mehr Strom liefern, als die Fabrik selbst braucht. Deshalb steht dahinter ein 1.400 kWh großer Park ausrangierter Batterien aus den ersten Elektroautos des Hauses als Zwischenspeicher. In Summe steuert die Sonne rund 30 Prozent der Produktionsenergie bei, auch weil für die Fertigung der neuen S-Klasse in der neuen Fabrik rund 25 Prozent weniger Energie benötigt wird als beim Vorgänger.
Und selbst die Kommunikations- und Datentechnik leistet ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit: Zum weltweit ersten Mal in einem Autowerk fußt der digitale Austausch auf einem 5G-Netzwerk, das Mercedes dafür eigens mit Ericson und O2 installiert hat, erläutert Bauer: So lassen sich alle Mitarbeiter, alle einzelnen Fertigungsschritte und Maschinen, ja selbst die Werkzeuge miteinander vernetzen. Weil alle Informationen in Echtzeit online übertragen und auf Bildschirmen, Smartwatches oder Computerbrillen angezeigt werden, wird nichts mehr aufgeschrieben oder ausgedruckt, was laut Bauer eine Einsparung von zehn Tonnen Papier pro Jahr ermögliche.