Portrait von Felix Mogge, Roland Berger

Im Gegensatz zur Weltwirtschaftskrise 2008/09 können Zulieferer nicht auf einen stabilen strategischen Ausblick zurückgreifen, meint Felix Mogge, Senior Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger. (Bild: Roland Berger)

Halbleitermangel, Ukraine-Krieg und Lockdowns in China – die Lage für die Zulieferindustrie ist gerade mehr als unübersichtlich. Was sollten Zulieferer nun beachten?

Die Lage für die Zulieferer war noch nie so herausfordernd wie aktuell. Die Weltwirtschaftskrise 2008/2009 war für die Zulieferer eine sehr schwierige Zeit im Hinblick auf die kurzfristige operative Situation, aber mit stabilem strategischem Ausblick. Ab 2015 haben sich dann die strategischen Herausforderungen unter anderem mit dem Aufkommen der E-Mobilität deutlich verschärft, parallel dazu lief aber das operative Geschäft sehr stabil. Nun treffen beide Herausforderungen die Branche zeitgleich mit voller Wucht. Beiden mit gleicher Aufmerksamkeit zu begegnen, ist ein sehr schwieriger Balanceakt. Es geht für die meisten Zulieferer vor allem darum, bei allen operativen Problemen den strategischen Blick nicht zu verlieren, um die Zukunftsfähigkeit des Geschäfts abzusichern.

Viele Zulieferer sind nur mit Blessuren aus den zwei Coronajahren gekommen. Muss sich die Branche auf weitere Krisenjahre einstellen?

Wir sehen keine kurzfristige Entspannung der Situation. Für 2023 und auch 2024 rechnen wir weiter mit erheblichen Herausforderungen. Bei der Halbleiterversorgung wird es zumindest in naher Zukunft weiter zu Engpässen kommen, die sich natürlich unmittelbar auf die Fahrzeugproduktion auswirken werden. Die Unsicherheit bei den Rohmaterialpreisen wird ebenso weiterhin eine Rolle spielen. Zudem werden die Fragen rund um die unsichere Energieversorgung und die globalen Anpassungen des Zinsniveaus die gesamte Branche zunehmend beschäftigen.

Insbesondere China galt lange Jahre als zuverlässiger Wachstumsmotor für die Industrie. Nun beginnt dieser zu stottern. Welche Auswirkungen sind für die Zulieferer zu befürchten?

Der Motor stottert ja schon eine ganze Weile. Wir hatten in China den Volumenhochpunkt 2017 mit rund 28 Millionen produzierten Fahrzeugen. Seitdem ist das Niveau sukzessive gesunken – im Zuge der Coronapandemie 2020 auf unter 24 Millionen Einheiten. Nach vorne blickend sind das Wachstumspotenzial und die Marktnachfrage in China nach wie vor vorhanden; die Dynamik ist jedoch nicht vergleichbar mit jener der letzten Dekade. Wahrscheinlich wird es 2024/2025 werden, bis das 2017er-Niveau im Reich der Mitte wieder erreicht wird. In der Konsequenz ließ sich bereits in den letzten drei Jahren beobachten, dass die Renditen für Zulieferer im Chinageschäft nach unten gegangen sind. Das wird auch wohl so bleiben, da inzwischen strukturelle Überkapazitäten im Markt vorhanden sind. Gleichwohl wird China als Markt für die Zulieferer wichtig bleiben – und für einige sogar noch wichtiger werden.

Neben China waren in der Vergangenheit vor allem Nordamerika und Europa die wichtigsten Märkte der Branche. Bleibt dieser Dreiklang bestehen oder gibt es bereits einen weiteren Zukunftsmarkt, der am Horizont auftaucht?

In den nächsten fünf bis zehn Jahren sehen wir in Südostasien, aber auch im Nahen Osten oder Teilen von Afrika Wachstumschancen. Unabhängig vom Volumenwachstum bleiben sowohl Europa als auch Nordamerika natürlich sehr wichtige Märkte, weil ein Großteil der technologischen Innovation und Transformation aus diesen Märkten entspringt. Sei es die E-Mobilität, seien es das autonome Fahren oder moderne Softwarearchitekturen. Für all diese Themen spielen die drei Kernmärkte auch zukünftig die zentrale Rolle, sowohl bei der Fahrzeugentwicklung als auch beim Fahrzeugabsatz. In dieser Hinsicht hat die Entwicklung der Märkte auch viel mit dem Aufbau der entsprechenden Infrastruktur zu tun. Sowohl die Elektromobilität als auch das autonome Fahren brauchen Voraussetzungen, die in den Märkten in Südostasien, Afrika und dem Nahen Osten aktuell und auch perspektivisch nicht gegeben sind.

In der Autobranche gibt es Bestrebungen, einige Lieferketten wieder stärker zu lokalisieren, um sich unabhängiger von globalen Krisen zu machen. Chance oder Risiko für die Zulieferer?

Sowohl als auch. Wenn wir über Lieferketten reden, gibt es auch aufseiten der Zulieferer über verschiedene Tier-Stufen ein breit gespanntes Netz. Der Umbau und die Verkürzung der Lieferkette, die von den Fahrzeugherstellern in vielen Bereichen angestrebt werden, machen auch vor dem Tier-1- oder Tier-2-Zulieferer keinen Halt. Eine Verlagerung der Lieferkette in die Nähe der Fahrzeugproduktion und damit zumeist in Regionen mit höheren Lohnkosten kostet erst einmal Geld. Auch die Schaffung von Redundanzen in der Lieferkette erhöht zunächst die Produktionskosten. Abgesehen davon sind die Verkürzung der Lieferketten und der Einsatz von alternativen Sublieferanten nahe der eigenen Produktion gar nicht immer möglich – etwa im Bereich von rohstoffintensiven Komponenten oder bei ausgewählten Elektronikbauteilen. Dort wo Zulieferer aber vorhandene Überkapazitäten oder eine produktionsnahe Lieferantenbasis haben, kann eine Kontraktion allerdings durchaus wirtschaftlich vorteilhaft sein, um eigene Kapazitäten besser auszulasten und die bedeutsamer gewordenen Logistikkosten zu optimieren, vom Nachhaltigkeitsaspekt eines kürzeren Lieferweges einmal ganz abgesehen.

Kosteneinsparungen fordern die OEMs nicht selten bei ihren direkten Lieferanten ein. Baden damit die Zulieferer die Krise für die gesamte Autoindustrie aus?

Ich würde zunächst konstatieren, dass wir finanzwirtschaftlich betrachtet keine Krise der Automobilindustrie, sondern eine Krise der Zulieferbranche haben. Mir sind wenige Industrien bekannt, in denen der aktuell allgegenwärtige Inflationsdruck nicht über die einzelnen Stufen der Wertschöpfungskette konsistent bis zum Endkunden durchgereicht wird. In der Automobilindustrie schlagen die Zusatzkosten aus Rohstoffpreisen, Energie und Logistik voll bei den Zulieferern auf. Der Fahrzeughersteller seinerseits hat aktuell einen gut funktionierenden Hebel, seine eigenen Kostensteigerungen durch Preisanpassungen an den Endkunden weiterzugeben. Diese Möglichkeit hat der Tier-1 in aller Regel momentan nicht, da er mit seinen OEM-Kunden zumeist langfristige Liefervereinbarungen getroffen hat, die keine kosteninduzierten Preisanpassungen vorsehen. Bei dem aktuellen Inflationsniveau kann und wird das strukturell jedoch nicht so bleiben können.

Während Branchengrößen die wirtschaftlich schwierigen Zeiten noch etwas besser abfedern können, geht es für kleinere Zulieferer oft um die Existenz. Gibt es Auswege aus diesem Dilemma?

Generell wird Größe für einen Zulieferer wieder ein wichtigerer Faktor. Die Anzahl der Risiken und Herausforderungen hat strukturell zugenommen und damit auch der Handlungsbedarf. Eine gewisse Unternehmensgröße ist da von Vorteil, um diese erhöhten Risiken ausbalancieren zu können. Dennoch werden in der Zukunft die – zumeist ja eher kleineren – Tier-2- und Tier-3-Zulieferer weiter eine wesentliche Rolle spielen, um die Komplexität in der gesamten Wertschöpfungskette beherrschbar zu halten. Herausfordernd wird es eher für die kleineren Tier-1-Zulieferer, die heute im direkten OEM-Geschäft tätig sind. Diese werden in einigen Bereichen durch die Konzentration auf wenige große und leistungsstarke Anbieter unter Druck geraten und sich strukturell in der Wertschöpfungskette eher als Tier-2 wiederfinden.

Elektromobilität, autonomes Fahren und das Connected Car – die Automobilindustrie wandelt sich aktuell stärker denn je. Sind die Zulieferer auf diesen technologischen Wandel ausreichend vorbereitet?

Produkt- und technologieseitig sind die Zulieferer grundsätzlich gut aufgestellt. Ein sehr erheblicher Teil der Innovation stammt aus dem Kreis der etablierten Größen der Branche, viele zukunftsgerichtete Patente werden von dort angemeldet. Zudem verfügen vor allem die größeren Zulieferer über jahrzehntelange Erfahrung in der Systemintegration und in der Steuerung komplexer Projekte. Ein Knowhow auf diesem Niveau können die oft gelobten Tech-Player heute in der Regel noch nicht vorweisen. Genauso wichtig wie die technologische Expertise ist aber auch die organisatorische und kulturelle Zukunftsfähigkeit. Wir reden über eine Vielzahl von neuen Produkten und Lösungen, die die Branche in den nächsten Jahren benötigen wird. Die Entwicklung derselben erfordert neue Kompetenzen, andere interne Strukturen und schnellere Entscheidungswege. Hier stellen wir fest, dass sich viele Zulieferer mit der Veränderungsdynamik noch sehr schwertun und allzu häufig in den zu starren Strukturen der Vergangenheit agieren. Die Geschwindigkeit der Veränderungen wird in den kommenden drei bis vier Jahren nochmal dramatisch zunehmen. Jeder Zulieferer muss sich auch intern darauf schnellstmöglich einstellen, wenn er weiterhin wettbewerbsfähig bleiben will.

Insbesondere die Elektromobilität entwickelt sich zum Milliardenmarkt. Welche Kompetenzen sind hier gefordert, um in diesem Zukunftsfeld nicht abgehängt zu werden?

Die Fahrzeughersteller haben ihre Wertschöpfungstiefe im batterieelektrischen Antrieb im Vergleich zum Verbrennungsmotor erhöht. Ungeachtet dessen spielen die klassischen Zulieferer jedoch hier weiterhin eine Rolle – auch wenn der Kreis der Beteiligten am Herstellungsprozess von E-Autos kleiner wird. Insbesondere im Bereich der Antriebselektronik erwarten wir eine zeitnahe Konsolidierung des Marktes. Mit den jetzt rapide steigenden Stückzahlen müssen Zulieferer hier zügig an den Kosten der Produkte arbeiten und Skaleneffekte realisieren, denn die Margen sind in dem Segment bereits heute vielerorts niedrig und werden weiter unter Druck bleiben. Mittelfristig erwarten wir, dass sich die Fahrzeughersteller wieder stärker aus dem Komponentengeschäft zurückziehen werden. Das wird aber noch ein oder zwei Fahrzeuggenerationen dauern.

Viele Automobilhersteller setzen auch beim Thema Fahrzeugsoftware auf externe Kompetenz. Ist hier die Zulieferindustrie noch mehr gefordert, sich in den Wettbewerb mit den großen Tech-Playern zu begeben?

Zulieferer müssen in Zukunft unterschiedliche Geschäftsmodelle über die Kunden hinweg bedienen können, von der vollintegrierten Systemlösung bis zu einzelnen Hardware- und Softwarebausteinen. Für alle gilt aber, dass wir eine stärkere Separierung von Hardware und Software sehen werden. Traditionell wurden beide bei den klassischen Zulieferern zusammengeführt. Hardware und Software müssen zukünftig voll eigenständig wettbewerbsfähig, weiterentwickelbar sowie kalkulier- und kommerzialisierbar sein. Gerade beim letzten Punkt tun sich viele Zulieferer jedoch heute noch sehr schwer.

Das autonome Fahren gilt als kostspielige Technologie, die auch Autobauer zu Kooperationen bewegt. Ist dieses Vorgehen auch für die Zulieferindustrie eine Option?

Unserer Einschätzung nach ist das ein Weg, den die Zulieferindustrie nicht nur gehen kann, sondern gehen muss. Viele Tech-Player, die im Markt aktiv sind, sind im Bereich der technologischen Entwicklungskapazitäten und der Finanzkraft den klassischen Zulieferern weit voraus. Gleichzeitig tun sich diese Akteure im Automotive-Umfeld immer noch schwer, weil es einer anderen Logik unterliegt als die Geschäftsfelder, in denen sie sonst unterwegs sind. Daher brauchen die Technologie-Player und Zulieferer einander, um im Wettbewerb auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Hier gibt es auch bereits einige namhafte Kooperationen und wir werden in Zukunft noch mehr von ihnen sehen.

Zur Person:

Portait von Roland Berger-Experte Felix Mogge.

Felix Mogge ist Senior Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger. Er berät Firmen entlang der gesamten automobilen Wertschöpfungskette und ist Spezialist für die weltweite Automobilzulieferindustrie. Seine Expertise umfasst unter anderem Restrukturierungs- und Leistungssteigerungsprogramme, M&A und Post-Merger-Integrationen. Felix Mogge ist seit 2003 bei Roland Berger und hat Betriebswirtschaft an der Otto Beisheim Graduate School of Management in Vallendar (Deutschland) und der John M. Olin School of Business in St. Louis (USA) studiert.

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