Der Antrieb wird elektrisch, Fahrzeuge zu Rechnern auf Rädern, die in der Entwicklung ungleich mehr Datenkompetenz erfordern als noch vor wenigen Jahren. Auch die Produktionsprozesse sind von diesem enormen Wandel betroffen und Kompetenzen in der Automatisierung sowie ökologisches Denken hinein in jede Faser der Wertschöpfungskette hoch gefragt. Zur Unterstützung beim Binden dieses sehr bunten Themenstraußes stehen auch die Engineering-Dienstleister (EDL) in der Pflicht, da sie zum einen bei der Entstehung der Produkte ihre Kompetenzen einbringen und zum anderen – je nach Haus – auch im Umfeld der Fabrikprozesse engagiert sind. Mit künstlicher Intelligenz gesellt sich auch ein für manche Kenner unerwartet schnell wachsendes Feld hinzu, das nicht minder Kompetenzen und Kapazitäten bindet.
Entwicklungsdienstleister müssen zu Softwareexperten werden
Die Ansprüche an das EDL-Umfeld sind also mannigfach. Fest steht: Digitalkompetenz ist Gold wert. Dass infolge des steigenden Anteils von Software in den Produkten und des damit verbundenen immer höheren Bedarfs an Systemintegration, Datenanalysen und IT-Betriebsleistungen sowie der sich verändernden Kundenanforderungen IT-Services für EDL immer wichtiger werden, beobachtet man beim Marktexperten Lünendonk. Bereits auf dem Zenit der Coronapandemie prognostizierte man den Themen Digital Engineering, Cloud-native-Softwareentwicklung und Agile-Software-Entwicklung einen hohen bis sehr hohen Einfluss auf den zukünftigen Geschäftserfolg. Zum Jahreswechsel 2022/2023 kommentierte Lünendonk-Geschäftsführer Jörg Hossenfelder dann: „Der Druck in Kundenunternehmen, insbesondere ausgelöst durch die digitale Transformation und die stärkere Ausrichtung auf Nachhaltigkeitsziele, ist enorm.“ Allein jedenfalls, so der Marktexperte, könnten diese komplexen Herausforderungen oft nicht gestemmt werden.
Gibt es den Teamspirit zwischen Auftraggebern und EDL?
Die Auftraggeber hätten gemeinsam nach Lösungen gesucht, wie die Projekte auch während der Pandemie erfolgreich bearbeitet werden können, schildert Bernd Gilgen, Geschäftsführer von Ferchau, dazu gegenüber Automobil Produktion. Im Grunde hätten die Unternehmen an ihren Strategiezyklen festgehalten, so dass die wichtigen Themen, die auf die Transformation in der Automotive-Branche einzahlen, nicht zum Stillstand gekommen seien. „Insgesamt hat sich die Zusammenarbeit in dieser Zeit sogar gefestigt, da die EDLs trotz der widrigen Umstände liefern konnten.“ Ähnlich sieht dies auch Christian Hirsch, Geschäftsführer der MVI Group. Manchmal sei es zwar zu Kommunikationsgaps gekommen, da der persönliche Kontakt weggefallen sei. „Doch mittlerweile können wir mit Zuversicht behaupten, dass der Kontakt und die Zusammenarbeit mit den OEMs eher verbessert wurde, das heißt effizienter geworden ist“, so Hirsch.
Ganz so vertrauensvoll sieht Hermann Gaigl, Geschäftsführer bei Invenio Virtual Technologies, den Umgang zwischen Auftraggeber und EDL nicht: Einen solchen gebe es nur noch selten, in der Regel müssten die EDL mit enormem Kosten- und Leistungsdruck umgehen. Die Stimmung beschreibt er als eher gereizt. Letztendlich stünden alle Beteiligten vor großen Herausforderungen. Was die Größe der Aufgaben und Vergabepakete anbelangt, nimmt Gaigl einen Trend zu größeren Auftragsvolumina wahr. Ihm zufolge auch deshalb, um attraktive Preise zu erzielen. MVI-Experte Hirsch konstatiert zum Thema Aufträge und Vergabe: „Um preislich den Anforderungen gerecht zu werden, haben wir erkannt, dass die Einbindung von Near- oder Offshore-kapazitäten unerlässlich ist.“
Topthemen: Erhebung, Aufarbeitung und Analyse von Daten
Beim Engineering-Dienstleister Ferchau sieht man das Automobil als vernetztes Device auf Rädern. Als Entwicklungsdienstleister sei es daher essenziell, die Hersteller und großen Zulieferer, aber auch neue Startups mit entsprechenden Kompetenzen und technologischer Tiefenschärfe zu unterstützen. Geschäftsführer Bernd Gilgen beschriebt die an ihn herangetragenen Themen: „Die Erhebung, Aufarbeitung und Analyse von Daten ist vermutlich das wichtigste Zukunftsfeld. Wir haben daher unsere Strategie mit vier neu gestalteten Kompetenzsegmenten optimiert ausgerichtet: Software, Elektrik/Elektronik, Produktentwicklung und Produktionsengineering.“ Für Hersteller und damit natürlich auch für die EDL rücke die Monetarisierung von Daten in den Mittelpunkt, weiß Gilgen, der zunehmend mehr und umfangreichere Aufgaben wahrnimmt. Insbesondere mit Blick auf die Prozesse beim OEM erachtet er „Skills und Kompetenzen in den Bereichen Planungsaufgaben, Konstruktion, Projektmanagement, Automatisierungslösungen sowie Qualitätsmanagement“ als besonders wichtig. Um nachhaltig interessant wie auch relevant für die Kunden zu bleiben, baue man Aktivitäten vor allem in der Softwareentwicklung für die Automotive-Branche aus. Dabei greife man auf das Framework Aspice zurück.
Christian Hirsch von MVI erkennt für das Fabrikumfeld die Themenblöcke Digitalisierung und Automatisierung, physische Automatisierung und Robotik sowie Fertigungsplanung und Steuerung als relevante und aktuelle Themen. Zu den Kompetenzen der Fachleute wie auch für Lösungen, die sich mit der Integration digitaler Technologien und Konzepte im Green- und Brownfield auskennen, zählen ihm zufolge die Implementierung von Sensorik, die Vernetzung von Maschinen und Anlagen, die Nutzung von Data Engineering und Analysemöglichkeiten sowie die Umsetzung von softwaretechnischen Automatisierungslösungen. Laut Hirsch investieren die Unternehmen verstärkt in automatisierte Produktions- und Logistiksysteme. Fachkräfte mit Kenntnissen in der Programmierung sowie der Integration und Wartung von solchen Systemen seien gefragt, um den Einsatz dieser Technologien voranzutreiben und damit die Effizienz in der Fabrikation zu erhöhen, „natürlich auch unter Nutzung modernster Technologien wie KI“, so der MVI-Chef. Für die Planung und Steuerung von Produktionsprozessen seien daher ganzheitliche Kenntnisse in Bereichen wie Fabrik- und Produktionsplanung, Materialfluss, Lagerhaltung und Lieferkettenmanagement unter Einbeziehung von ESG-Kriterien erforderlich.
Auch Entwickler spüren den Fachkräftemangel
Woher kommen die Menschen zur Lösung dieser zunehmend komplexen Aufgaben? Der Bedarf an IT-Fachkräften ist Hirsch zufolge jedenfalls enorm hoch. Derzeit setzen zahlreiche High-tech-Player gut ausgebildete Kräfte frei. Können EDL wie MVI davon profitieren? Der MVI-Experte konkretisiert: „Uns scheint, dass oftmals zu unüberlegt an IT-Projekte herangegangen wird. Das hängt mit den agilen Entwicklungsmethoden zusammen.“ Da viele Kunden sich das Fachkonzept nun sparen, falle den Fachbereichen das Schreiben der User-Storys zu, wobei sie meistens ohnehin schon an der Leistungsgrenze seien. „Somit sind einerseits IT-Kräfte gebunden, weil sie auf Input warten, fehlen aber an vielen anderen Stellen“, beschreibt der MVI-Experte das Dilemma.
Invenio-Geschäftsführer Hermann Gaigl betont, dass es besonders im letzten Jahr sehr schwierig gewesen sei, an geeignete und bezahlbare Bewerber und Bewerberinnen zu kommen. Mit entsprechenden Anstrengungen sei man jedoch attraktiver geworden und könne zumindest in diesem Jahr nicht klagen, da man gute Softwareexperten und -expertinnen einstellen konnte. Und auch beim Mitbewerber Ferchau freut man sich über einen regen Bewerbungseingang. Allerdings seien die geforderten Durchschnittsgehälter nicht immer marktgerecht, da diese sich durch den Fachkräftemangel und durch die zuvor am Markt erzielten hohen Gehälter nach oben entwickelt hätten, erklärt Bernd Gilgen. „Um einen hohen Bewerbereingang zu erzielen, haben wir unsere Aktivitäten in der Rekrutierung massiv erhöht“, schildert der Geschäftsführer des Entwicklungsdienstleisters.
Engineering-Unternehmen bauen KI-Kompetenzen auf
Neben einer Ausweitung der Aktivitäten vor allem in der Softwareentwicklung für die Automotive-Branche, setzt man bei Ferchau auch auf Kompetenzen in den Segmenten Powermanagement, Thermomanagement sowie der Bordnetzarchitektur. Kunden wollen das Time-to-Market verkürzen und die Qualität steigern, weiß Christian Hirsch von der MVI Group. Durch einen speziellen Mix aus Fachexperten aus Produktion, Logistik, Test und Validation mit eigenen IT-Experten, KI- und Cloud-Knowhow sowie der speziellen Kenntnis der Prozesse der Kunden, sei man in der Lage, schnell und zuverlässig Mission-critical-Projekte umzusetzen. Durchgängige Prozesse greifen meistens in viele, auch alte IT-Systeme ein und beteiligen viele Fachbereiche. Hier brauche es interdisziplinäres Knowhow und die Fähigkeit, all diese Kompetenzen über viele Schnittstellen hinweg zu organisieren. „Dabei steht mehr die Kunst, über alle Beteiligten hinweg einen Konsens zu erzeugen, im Vordergrund als reine IT-Kompetenz“, betont MVI-Geschäftsführer Hirsch.
Beim EDL Invenio erkennt man einen zunehmenden Wunsch nach Digitalisierung im Bereich Produktionsengineering. Zu den beim EDL angefragten Themen zählen etwa der digitale Zwilling und das Industrial Metaverse. „Hier geht es vor allem darum, die virtuellen Daten der 3D-Modelle aus unterschiedlichen Gewerken wie Produkt, Fabrik oder Produktion frühzeitig zusammenzuführen und abzusichern“, erläutert Geschäftsführer Gaigl. Invenio biete dazu den eigenen Softwarebaukasten VT-DMU. Im Bereich künstlicher Intelligenz bewege man sich mit dem Hauptaugenmerk darauf, den Ingenieuren und Ingenieurinnen zuzuarbeiten beziehungsweise Arbeit abzunehmen.