Ein Besuch bei Lotus in Hethel hat ein bisschen was von einer Zeitreise: Seit der chinesische Automobilgigant Geely nach Volvo und Proton auch den britischen Sportwagen-Produzenten übernommen hat, sind mehr als 100 Millionen Pfund in das englische Stammwerk geflossen. Doch verwinkelte Zufahrten, antiquierte Schlagbäume und flache Backsteinbauten beamen Besucher zurück in die späten 1980er, als die Firma ihren letzten Formel 1-Titel gewonnen hat.
Doch der Blick zurück zählt nicht mehr, seit Geely vor sechs Jahren den englischen Patienten übernommen hat. Und am anderen Ende der Welt schaut man erst recht nur nach vorn. Denn hier in Wuhan, eine gute Flugstunde westlich von Shanghai, schickt Lotus seine Besucher in die Zukunft. In der Wuhan Economic and Technological Development Zone, in der schon zehn Autohersteller und 500 Zulieferer angesiedelt sind und über eine Million Fahrzeuge pro Jahr gebaut werden, hat Geely der britischen Tochter für rund eine Milliarde Euro eine neue Heimat gebaut und ihr so ein industrielles Biotop geschaffen, in dem Lotus zu einem globalen Luxushersteller für die Generation E aufblühen soll.
Produktionskapazität soll um Faktor 30 steigen
Global EV Production Center lautet der offizielle Name des eine Million Quadratmeter großen Komplexes mit Presswerk, Schweißhalle, Lackiererei, Endmontage und Qualitätskontrolle samt Kalibrierung für das üppige Sensorset der Assistenzsysteme. Und der Unterschied zu Hethel könnte kaum größer sein – von der sechsspurigen Zufahrtsstraße über die kathedralengleiche Eingangshalle bis hin zur blitzweißen Fassade mit dem riesigen LED-Screen, über den tagein tagaus das gleiche Image-Video läuft. Vor allem aber sind es die Dimensionen, die den Unterschied machen: Während in Hethel mittlerweile wieder rund 2.000 Mitarbeiter im besten Fall 5.000 Autos bauen sollen, ist das neue Werk in Wuhan auf 2.400 wie so oft in China direkt neben der Produktion untergebrachte Werker und eine Kapazität von 150.000 Autos im Jahr ausgelegt.
Nur die Betriebsamkeit ist hier wie dort vergleichsweise bescheiden. „Zumindest im Augenblick lassen wir es noch langsam angehen“, sagt Tan Xi, der die Fertigung verantwortet und bereits mehr als ein halbes Dutzend Fabriken in China aus dem Boden gestampft hat. Schließlich hat Lotus in den 270.000 Quadratmeter großen Hallen erst vor ein paar Wochen mit der Serienproduktion des Eletre begonnen und baut während des Ramp-Up aktuell gerade mal 40 Autos am Tag. „Doch wir fahren die Produktion konsequent hoch“, sagt Xi, der nach der chinesischen Markteinführung jetzt die ersten europäischen Exemplare des als Hyper-SUV apostrophierten Eletre baut und dafür schon in wenigen Wochen eine zweite Schicht starten will.
Beim Lotus Eletre soll es nicht bleiben
Lange wird die Ruhe in Wuhan allerdings nicht währen. Nicht nur, weil der mit einem Grundpreis von unter 100.000 Euro – den niedrigen Lohnkosten in China und dem hohen Grad der Automatisierung im Werk sei Dank – nahezu konkurrenzlose Eletre sich so gut verkauft, dass die Lieferfristen schon jetzt ins nächste Jahr reichen. Sondern auch, weil es nicht bei dem SUV bleiben soll. Neben den blau eingefärbten Pressformen für den Eletre liegen deshalb in grün bereits die Schablonen für das zweite Modell aus Wuhan, das im nächsten Jahr gegen Autos wie den Porsche Taycan antreten soll. Und 2025 kommt dann als dritter im Bunde und mutmaßlicher Bestseller ein zweites E-SUV im Format des Porsche Macan, verrät Mr. Li und schreit dabei gegen die riesigen Pressen an, die bis zu 18 Hübe pro Minute oder 3,5 Millionen Hübe pro Jahr machen.
Neues Lotus-Werk soll digital und nachhaltig sein
Lotus stößt in Wuhan aber nicht nur in neue Dimensionen vor und baut ein als erstes voll elektrisches SUV eines Sportwagenherstellers aktuell ziemlich konkurrenzloses Produkt. „Sondern wir gehen auch in der Fabrikplanung und der Fertigungstechnik neue Wege“, sagt Xi. So rühmt er Wuhan als die erste Automobilfabrik, die dreidimensional mit einem digitalen Zwilling geplant und entsprechend schnell und flexibel errichtet wurde. Und während sie in Hethel bisweilen noch überhaupt um Mobilfunk-Empfang ringen müssen, arbeitet Wuhan mit einem 5G-Standard, der besonders präzise und effiziente Prozesse ermöglichen soll.
Ein weiterer Schwerpunkt bei der Werksplanung war die Nachhaltigkeit, sagt Xi und lenkt den Blick auf einen künstlichen See zwischen der werkseigenen Akademie und der drei Kilometer langen Renn- und Teststrecke, in dem Regenwasser von den Dächern aufgefangen und regeneriert wird, bevor es die Toiletten spült, die Straßen wäscht oder die Grünanlagen wässert. Rund 35.000 Kubikmeter Leitungswasser sollen so pro Jahr gespart werden. Und wenn man dem Werk aufs Dach steigt, sieht man schon jetzt schier endlose Photovoltaik-Flächen, die schon jetzt gut sind für 12 Millionen Kilowattstunden Energie. Bis zum Ende des Jahres will Xi die Energie-Ernte auf 1,6 Gigawattstunden steigern und so ein Viertel des Energiebedarfs mit Solarstrom decken. Bis 2025 soll sogar der gesamte Fertigungsprozess auf nachhaltige Energie umgestellt sein. Damit wäre die Produktion den Produkten sogar voraus. Denn rein elektrisch und damit CO2-frei wird das Lotus-Portfolio nach aktuellem Stand erst 2028.