Herr Lagler, wie ist die Automotive-Branche beim Druckguss aufgestellt?
Druckguss hat eine über hundertjährige Tradition und kommt seit Jahrzehnten in der Automobilindustrie zum Einsatz, hauptsächlich für Gehäuse im Bereich Powertrain, etwa bei Kurbel- oder Getriebegehäusen sowie bei Ölwannen wie auch für Fahrwerkkomponenten. Mit der E-Mobilität kommen ebenfalls Motorengehäuse wie auch solche für den Inverter hinzu. Unverändert und unabhängig vom Antrieb ist Druckguss state-of-the-art bei Gehäusen für Lenkgetriebe und Klimakompressoren. Es kamen Strukturbauteile im Body-in-White hinzu, ein Thema, das nicht erst mit Tesla, sondern bereits in den 90er-Jahren mit Audis Aluminium-Space-Frame-Bauweise seinen Anfang nahm. Damit einher ging auch die Entwicklung entsprechender Legierungen sowie auch die Vakuum-Technologie, also das Absaugen der Luft, bevor Aluminium eingegossen wird. Dies sichert zum einen eine hohe Qualität, erlaubt die Schweißbarkeit des Gussteils und ermöglicht hohe Dehnwerte, wie sie bis dato im Guss undenkbar waren. Damit wurde der Grundstein für das gelegt, was wir heute Megacasting nennen. Die Technologie nahm bei den deutschen OEMs Fahrt auf. Weitere Marken kamen hinzu und heute setzen vor allem auch zahlreiche chinesische Startups auf Druckguss im Body-in-White.
Wie positioniert sich Bühler rund um Megacasting?
Nach unserer Definition handelt es sich bei den eben genannten Bauteilen um solche auf Maschinengrößen bis etwa 4.000 Tonnen Schließkraft, also solche für die Produktion von Längsträgern und Federbeinstützen für den Vorderwagen. Wer den Wechsel von Stahlblech auf Aluminium wagen möchte, hat mit diesen Bauteilen einen guten Einstieg in den Druckguss. Damit sind außer den OEMs zumeist zahlreiche Gießereien befasst, die diese Komponenten dann an die Autohersteller zuliefern. Die Tradition ist also groß. Mit Blick auf den Einsatz in der Karosserie und hier wiederum bei recht großen Bauteilen ist der Druckguss aber noch recht neu. Megacasting ist für uns die logische Weiterentwicklung im Bereich der Strukturbauteile. Mit groß dimensionierten Anlagen bietet es sich nun an, mehrere Strukturbauteile zu kombinieren, wie auch bei einem direkten Umstieg zahlreiche Stahlbauteile gleich ganz zu substituieren. Wir sprechen typischerweise dann von Megacasting, wenn wir über die genannten 4.000 Tonnen Schließkraft hinausgehen, in Bereiche also von 6.000 bis 9.000 Tonnen, Werte, mit denen sich nun ganze Hinter- oder Vorderwagen in einem Teil umsetzen lassen.
Die Maschinen Ihres Hauses tragen die Bezeichnungen Carat 105 bis 920. Was zeichnet die Systeme aus?
Die Zahlen sind ein Hinweis auf die Größen. So verfügt die Carat 105 über 1.050 Tonnen Schließkraft, die Carat 920 über mehr als 9.000 Tonnen oder - technisch exakter ausgedrückt - über 92.000 kN Schließkraft. Die Maschinen sind vom Konzept her identisch, wobei es noch einen zweiten wichtigen Aspekt gibt, das ist die Gießeinheit. Sie bestimmt, wie viel Masse Aluminium sich vergießen lässt, denn ein wesentliches Merkmal beim Megacasting ist, ob man das Werkzeug innerhalb von etwa 70 bis 90 Millisekunden auch mit flüssigem Aluminium befüllt bekommt. Um dies zu gewährleisten, muss die Maschine eine entsprechend hohe Füllkraft bieten. Unser Modell 610 Extended sowie die 840 und 920 verfügen hierfür über noch größere Gießeinheiten als die anderen Modelle. In einem Abgussgang sind bis zu 200 Kilogramm Aluminium möglich.
Volvo will im Werk Torslanda zwei Druckgießzellen vom Typ Carat 840 einsetzen. Welche Stückzahlen und in welchen Zykluszeiten können die Schweden damit fertigen?
Generell gehen wir bei diesen Bauteilen und Anlagengrößen von etwa 120.000 Teilen pro Jahr aus. Dies ist freilich ein Richtwert und keine ganz genaue Zahl, weil es weitere Faktoren zu beachten gilt. Relevant ist etwa, wie dickwandig die Bauteile sind, denn dünnere Teile erstarren natürlich früher als dickere. Zudem spielt die Form des Bauteils eine wichtige Rolle. Die Zykluszeiten liegen in etwa bei zwei Minuten pro Bauteil. Mit allen Umrüstzeiten und eine komplette Verfügbarkeit der Anlage vorausgesetzt, kommt man dann auf die genannte Teilezahl. Wenn ein OEM eine halbe Million Fahrzeuge pro Jahr mit je einem Teil für den Hinterwagen produzieren will, benötigt er also vier oder fünf solcher Maschinen. Will er gleichzeitig auch den Vorderwagen ausstatten, verdoppelt sich die Zahl. Betont sei aber, dass sich auf einer Anlage auch verschiedene Bauteile herstellen lassen, wenn die Formen gewechselt werden.
Volvo wird die Systeme für Teile des hinteren Bodenbereichs seiner neuen Fahrzeugplattform einsetzen. Welche Herausforderungen gehen damit einher, etwa mit Blick auf die Wandstärken?
Da wir auch auf dem Gebiet der Bauteilgestaltung und Prozesse tätig sind, wissen wir sehr genau um die spezifischen Anforderungen. In der Regel sind Karosseriebauteile nicht einheitlich, sie müssen lokal unterschiedliche Stärken bieten. Wichtig ist dabei eine Auslegung entsprechend der Fließrichtung des Aluminiums. Das Bauteildesign und die Produktionsverfahren hängen also sehr stark miteinander zusammen. Es gibt zwar viele Freiheiten, aber im Vordergrund steht die Frage, wie man mit möglichst wenig Aluminium die Anforderungen erfüllt und sich das Bauteil ideal herstellen lässt. Nur wenn Design und Prozess ideal aufeinander abgestimmt sind, kann der OEM maximalen Leichtbau bei hoher Kosteneffizienz erzielen. Um eine Zahl zu nennen: Bei den Wandstärken können wir technisch gesehen bis hinunter auf 1,8 Millimeter gehen. Dies ist kein Durchschnittswert, sondern eher einer für den Rand eines Karosseriebauteils. Dort, wo wir eingießen, liegen die Materialstärken freilich höher. Eine strategische Frage ist daher auch die, wo man den Anguss positioniert. Noch etwas mehr Potenzial mit Blick auf die Reduktion von Wandstärken bietet Magnesium, weil es sich noch leichter vergießen lässt.
Welche Perspektiven bietet Magnesium denn?
Im Body-in-White ist Magnesium aktuell jedenfalls noch kein Thema. Das leichte Material kommt eher für Strukturbauteile für den Fahrzeuginnenbereich in Frage, etwa für die Aufnahme der Instrumententafel oder das Lenkrad. Bei Megacasting handelt es sich um Kaltkammerdruckguss. Dieser erlaubt die Verarbeitung der beiden Materialien Aluminium und Magnesium, wobei der Anteil von Aluminium bei weit über 90 Prozent liegt. Auf kleineren Maschinen gibt es auch noch Anwendungen mit Kupfer oder Messing.
Die Zweiplatten-Druckgießlösung Carat soll eine minimale Platten-Durchbiegung sowie eine hohe Maßgenauigkeit mit Blick auf komplexe Strukturbauteile bieten. Können Sie dies genauer erläutern?
Grundsätzlich gibt es zwei Arten, wie man die Schließeinheiten der Systeme aufbauen kann, also die Stellen, an denen beide Formhälften zusammengedrückt werden. Eine Maschine hat vier Säulen in den Ecken der Platten. Typischerweise sitzt hinter der Spannplatte in der Mitte ein Kniehebelgelenk. Die Zweiplatten-Maschine verfügt anstelle dieses einen mittigen Kniehebelgelenks über jeweils einen hydraulischen Spannzylinder hinter jeder Säule. Die Spannung von außen lässt sich über diese vier Säulen noch viel gezielter auf die Form bringen als mit dem einen zentralen Kniehebel. So erreichen wir eine bessere Steifigkeit und bringen die Spannkraft homogener ein, die Maßhaltigkeit wie auch die Qualität werden zudem verbessert. Dies ist speziell mit Blick auf dünnwandige Formen entscheidend, wenn wir über Bauteile von 1,6 auf 1,6 Meter und Wandstärken von wenigen Millimetern sprechen.
Welche weiteren Bauteile sind im Karosseriebau denkbar? Im Bereich des Vorderwagens etwa liegen die Herausforderungen ja bei der Crash-Performance.
Eine spannende Frage. Den ersten Einstieg in die Welt des Megacastings bieten sicherlich Komponenten für den Hinterwagen so wie jetzt bei Volvo. Hier geht es vorwiegend um die Steifigkeit. Druckguss hat aber auch im vorderen Fahrzeugbereich eine Berechtigung. Bevorzugtes Material ist Aluminium bereits geraume Zeit bei den Federbeinstützen. Strukturguss muss man aber nicht immer in riesigen Bauteilen denken, denn er bietet auch die Möglichkeit für intelligente Kombinationen. Im Zusammenspiel mit Profilen etwa, die die Kräfte einleiten, bieten sich den OEMs auch im Vorderwagen viele Optionen und Vorteile, weil im weiteren Prozess keine Nahtabdichtungen erforderlich sind wie bei der Stahlbauweise. Auch die Logistikprozesse werden durch Druckguss vereinfacht. Zunehmend kommen ja auch Batteriekomponenten ins Spiel. Hier sehen wir zwei Strömungen: Zum einen per Megacasting gefertigte Gehäuse sowie zum anderen mit diesem Verfahren hergestellte Batterierahmen. Hier ist das Feld noch offen im Wettbewerb zwischen Stahl und Aluminium in verschiedenen Herstellverfahren. Vermehrt nehmen wir derzeit Anfragen von Lkw-Herstellern wahr, die Batteriegehäuse für ihre E-Lkw im Aluminiumdruckguss fertigen möchten.
Aluminium ist mit Blick auf den CO2-Footprint kein unproblematisches Material. Wie gelingt es, den im Megcasting-Prozess hergestellten Komponenten einen möglichst geringen Rucksack mit auf den Weg zu geben?
Gerade im Gussbereich gewährt Aluminium die Möglichkeit, sich beliebig recyceln zu lassen. Bei End-of-Life eines Fahrzeugs muss das Material im Idealfall nur eingeschmolzen werden, um wieder die gleiche Qualität zu erlangen. Bei Stahl ist dies nicht der Fall. Innerhalb der Gießerei schmelzen wir Aluminium-Angussteile und Überläufe direkt vor Ort wieder ein. Bei Stahl entstehen in einem klassischen Presswerk hingegen viele Reste, die logistisch aufwändig in die Stahlwerke zurückgeschickt werden müssen, um aus ihnen wieder neue Coils zu fertigen. Aluminiumschmelze beim OEM vor Ort erlaubt ihm bereits nach ein bis zwei Stunden den erneuten Einsatz. Weit entscheidender aber ist das Rohmaterial an sich. Hier kann ein OEM schon früh steuern, ob das Material wenig CO2-Belastung mitbringt, so wie es etwa BMW mit aus Sonnenstrom der Wüste hergestelltem Aluminium zeigt. Heute erreichen wir Werte von vier Kilogramm CO2 pro Kilogramm Primäraluminium, was schon sehr gut für die energieintensive Primärproduktion ist. Zum Vergleich: Mit Kohlestrom hergestelltes Aluminium aus China liegt bei 20 Kilogramm CO2, also um den Faktor fünf höher. Um die genannten vier Kilogramm CO2 noch weiter zu drücken, sind Bemühungen im Gang, den Elektrolyseprozess weiter zu optimieren. Wir werden im Juni anlässlich eines Megacasting- Events zeigen, wie man die CO2-Entstehung aus der Anode vermeiden und so letztlich hinunter auf einen Wert von zwei Kilogramm CO2 pro Kilogramm Aluminium gelangen kann. Noch bessere Werte lassen sich natürlich mit Sekundär-Aluminium erzielen, also beispielsweise durch das Einschmelzen alter Felgen oder Motorblöcke und dergleichen. Dies bedingt aber ein exaktes Sortieren, um von vornherein Fremdstoffe zu vermeiden und die Legierungen reinzuhalten. Bei den Prozessen sind die Hebel nicht ganz so groß. Noch wird in den Giessereien Aluminium weitgehend mit der Energie aus Erdgas geschmolzen. Auch hier arbeiten wir mit Partnern an Lösungen, etwa an der elektrischen Schmelze über erneuerbare Energien. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Biogas anstatt Erdgas. So kann mit der herkömmlichen Schmelztechnologie CO2-Neutralität erreicht werden.
Sie bieten ein Dienstleistungsangebot rund um Megacasting. Was zählt dazu?
In unserer Abteilung Anwendungstechnik sind Prozessingenieure damit befasst, den Prozess beginnend mit dem Bauteildesign zu begleiten. OEMs, die von Stahl auf Aluminium wechseln wollen, unterstützen wir mit einer gussgerechten Konstruktion der Bauteile. Wichtig ist es, dass ein Bauteil von Beginn an auf den Prozess hin optimiert wird, um alle Einsparpotenziale berücksichtigen zu können. Dann geht es weiter mit der idealen Auslegung der Anlagen- und Formtechnik, wo wir auch das Engineering übernehmen. Am Schluss soll beim Kunden nicht nur eine Druckgussmaschine stehen, sondern eine gesamte automatisierte Gießzelle. Wir begleiten die Inbetriebnahme und unsere Prozess-Ingenieure übernehmen das Feintuning, das Optimieren der Zykluszeiten, um den Hochlauf so reibungslos wie möglich zu gestalten. Darüber hinaus ist das Thema Ausbildung wichtig. Die Schwesterabteilung unserer Anwendungstechnik unterstützt den OEM mit Schulungen seines Personals. Im Vorfeld kann dies bereits bei uns in unseren Schulungszentren als eine Art Grundausbildung erfolgen. Später sind wir dann vor Ort in der Fabrik beim OEM, um alle beteiligten Personen auf das Thema hin auszubilden.
Megacasting eignet sich besonders für Greenfield-Projekte der OEMs. Welche Argumente gibt es, um auch Hersteller mit Bestandsfabriken, die bislang mit klassischer Blechschalenbauweise arbeiten, zu überzeugen?
Ein spannendes Thema. Greenfield lässt viele Freiheiten, weil kein abgeschriebenes Equipment und keine bestehenden Strukturen berücksichtigt werden müssen. Trotzdem sind wir der Meinung, dass auch Bestandswerke über Megacasting nachdenken sollten. Es gibt bereits einige, die dies auch tun. Die Effizienzvorteile, die Durchlaufzeiten, das Thema Nachhaltigkeit sprechen für sich. Im Vergleich mit abgeschriebenen Presswerken und eingespielten Montagelinien ist der Argumentationshebel freilich nicht ganz so stark. Wichtig ist, die Investition in eine Druckgussanlage nicht als eine kurzfristige zu betrachten, womöglich mit dem Blick auf nur eine Modellgeneration. Druckgussmaschinen überdauern nicht nur einen Fahrzeugzyklus, sondern 30 und mehr Jahre. Ein Beispiel, das ich nennen kann, bietet BMW, wo wir seit 20 Jahren Maschinen zur Produktion Druckgussbauteilen im Einsatz haben. Die werden derzeit generalüberholt und leisten dann weitere zehn und mehr Jahre Dienst zur Fertigung von Strukturbauteilen. Bei Druckgussanlagen und damit auch Megacasting handelt es sich also um eine langfristige Investition, die nicht in kürzester Zeit abgeschrieben werden muss.
Wie sehen Sie die kommenden Jahre und welche Chancen bieten sich Ihnen durch neue Fahrzeuggenerationen?
Megacasting hat sehr stark an Fahrt aufgenommen. Vor allem das vergangene Jahr war ein Herausragendes. Aus unserer Sicht war 2022 das Beste in der Geschichte, denn noch nie wurde innerhalb eines Jahres so viel in Druckguss investiert. Im ersten Quartal 2023 hat sich dies noch einmal gegenüber dem Vergleichszeitraum beschleunigt. Mehrere OEMs schlagen nun diesen Weg ein, zumindest mit einer Plattform. Wir erwarten, dass das Thema noch weiter an Fahrt gewinnen wird. Wir stehen noch am Anfang, aktuell sind es ja erst wenige hunderttausend Fahrzeuge, für die Megacasting überhaupt zum Einsatz kommt. Das Potenzial ist aus unserer Sicht sehr groß. Selbst wenn man sich als OEM noch nicht an das Thema Megacasting im Karosseriebau herantraut, können OEMs Erfahrungen mit dem Thema sammeln, beispielsweise mit kleineren Bauteilen wie Federbeinstützen, die auch problemlos als Zukaufteil bezogen werden können.
Zur Person:
Martin Lagler ist bei der Bühler Group Director Global Product Management & Marketing, Druckguss. Diese Funktion übernahm er Anfang des Jahres 2020. Seine Abteilung plant neue Produkte und Marktstrategien und ist Auftraggeber für die Produkte, zu denen auch die Megacasting-Maschinen zählen. Lagler leitete zuvor die Abteilung Global Application Technology, wo er sich auf Prozessoptimierung, Werkzeugdesign und Schulung konzentrierte. Er hat einen Bachelor of Science in Mechanical Engineering der ZHAW School of Engineering, Winterthur, sowie einen Master of Advanced Studies in Business Administration der ZHAW School of Management and Law.