In den vergangenen Monaten gab es nicht allzu viele gute Nachrichten aus dem Hause Daimler. Schon vor der Coronakrise sah es um den Vorzeigeautobauer aus Stuttgart nach seinen zahlreichen Gewinnwarnungen nicht gut aus. Der anhaltend grassierende Corona-Virus hat die Situation nicht einfacher gemacht - im Gegenteil. Mittlerweile stehen 15.000 bis 30.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Daimler-CEO Ola Källenius will endlich wieder auf Luxus setzen und kleinen Baureihen sowie Spartenmodellen, die kaum Geld in die Kassen spülen, weniger Platz einräumen. Da kommt die neue Mercedes S-Klasse als Aushängeschild der Marke gerade recht. Nach der Weltpremiere Anfang September soll diese noch im Oktober auf den Markt rollen. Der Druck ist größer denn je und so haben die Daimler-Verantwortlichen einen ihrer besten und erfahrensten Entwickler auf den bequemen, aber heißen Stuhl gesetzt: Jürgen Weissinger.
Weissinger, diesmal im hellen Polohemd und dunkler Hose, lächelt wieder einmal, als man sich in Sindelfingen am Center of Excellence trifft. Hier stellen Maybach-Kunden ihre Luxusmodelle zusammen; hier werden teuerste AMG-Modelle und exklusivste S-Klassen an wohlbetuchte Kunden übergeben. Gerade so eine Übergabe findet derzeit mit einem AMG GT statt, doch den ungewöhnlich jungen Kunden gehen die Augen über, als Jürgen Weissinger beinahe geräuschlos mit einem Zebra auftaucht. Das Zebra ist aus keinem Zoo entlaufen, sondern ein schwarz-weiß getarnter Prototyp der neuen Mercedes S-Klasse - interne Bezeichnung W 223. Der Druck auf der S-Klasse und Weissinger ist groß und beiden sieht man es nicht an. Der Schnauzbart lächelt freundlich und lässt einen heute leider nur auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Die erste Probefahrt - zwei Stunden in und mit der kommenden S-Klasse. "Die Kunden können sich auf das neue Modell wirklich freuen", sagt Weissinger.
Der Entwicklungschef biegt auf den ersten 200 Metern zweimal ab und fährt auf einem kleinen Parkplatz überraschende Wendemanöver um zwei Firmenangehörige, die gerade in den schwäbischen Feierabend wollen. Dann biegt er rechts ins Mitarbeiterparkhaus ab und dreht auf den einzelnen Ebenen noch ein paar Kringel mit dem Prototyp. "Wir haben eine neue Hinterradlenkung. Die kann die hinteren Räder wahlweise bis zu fünf oder zehn Grad einschlagen", strahlt Weissinger, "das bringt nicht nur Sicherheit und Stabilität bei höheren Geschwindigkeiten, sondern macht die S-Klasse deutlich wendiger als bisher. Der Wendekreis reduziert sich um mehr als eineinhalb Meter." Okay: imposanter Startschuss einer Testtour über die schwäbische Alb.
Hochkantdisplay in der Mitte
Auf der Autobahn A 81 fällt das niedrige Geräuschniveau auf. Keine Überraschung, denn genau das erwartet man von einer S-Klasse. Man sitzt gut - selbst für eine Luxuslimousine auffallend beeindruckend. "Das sind komplett neue Sitze. Man sitzt im und nicht auf dem Sitz - vorne wie hinten. Da werden wir völlig neue Sphären aufzeigen", sagt Jürgen Weissinger, "der Fond wird immer wichtiger. Daher gibt es auch vier Zentimeter mehr Radstand und viele neue Features im Fond." Recht hat er - man sitzt nicht zu weich, nicht zu hart und dabei wohlkonturiert, ohne sich eingeengt zu fühlen. Nur die Sitzkühlung ist wie beim aktuellen Modell der Baureihe W 222 und zugegeben auch bei der europäischen Konkurrenz aus München und Ingolstadt allzu schwach auf der Brust. Da kommt nicht mehr als ein laues Lüftchen.
Mit der neuen S-Klasse-Generation führt Mercedes das Bediensystem MBUX der zweiten Generation ein. Das überrascht mit einem vergleichsweise kleinen Bildschirm für die Instrumenteneinheit hinter dem Steuer. Die wichtigsten Informationen werden über ein üppig dimensioniertes Head-up-Display auf die Straße projiziert. Beide Head-up-Displays sind überraschenderweise jedoch nur als Sonderausstattung zu bekommen. Serienmäßig ist hingegen das mächtige Hochkantdisplay zwischen Fahrer und Beifahrer, über das sich alle Bedienungen des Fahrzeugs steuern lassen.
Plug-in-Hybrid mit mehr als 100 km Reichweite
Erstmals gibt es das Bediensystem MBUX auch für die Insassen in der zweiten Reihe. Hier steht ebenso wie beim Siebener BMW nunmehr ein zentrales Bediendisplay auf der Mittelarmlehne zur Verfügung, das sich auch entnehmen lässt. Zudem lassen sich die wichtigsten Bedienungen für Fenster, Verschattung und Sitz auch über Schalter in den Türtafeln ansteuern. Neu sind zwei Touchdisplays an der Rückenlehne der Frontsitze. Hierüber kann man nicht nur die Wunschmusik finden, im Web surfen oder Filme anschauen, sondern auch zahlreiche Fahrzeugfunktionen bedienen.
Auch vom Beifahrersitz lässt sich einiges von der Fahrt an sich spüren - der beeindruckende Abrollkomfort und wie entspannt Vorder- und Hinterachse über alles hinwegrollen, was sich einem in den Weg stellt. Natürlich gibt es eine variable Luftfeder - die ist üblich in dieser Liga. Doch auch bei harten Kanten oder groben Fugen fehlt jede Stößigkeit. Diesmal ist Weissinger mit einem Diesel unterwegs - dürfte der S 400d sein, der knapp 350 PS und mehr als 700 Nm maximales Drehmoment leistet. Vierzylinder sind bei der S-Klasse kein Thema; darauf legt Weissinger Wert. Anders sieht es mit der Elektrifizierung aus. Der reine Elektroantrieb bleibt in dieser Liga dem Mercedes EQS vorbehalten, der erst Mitte 2021 seine Premiere feiert. Die S-Klasse bietet Versionen mit Plug-in-Hybridantrieb, die Elektroreichweiten bis 100 Kilometer haben. In der Erprobung sollen einige Prototypen über 120 Kilometer geschafft haben. Auch das dürfte in Ingolstadt und München mit den Konkurrenzmodellen Audi A8 und BMW 7er für Kopfzerbrechen sorgen. Die aufgeladenen Sechs- und Achtzylinder kommen mit dem 48-Volt-Bordnetz, das man bereits von der aktuellen E-Klasse sowie dem GLS kennt.
Gesetzt sind zudem drei Radstände, Heck- und Allradantrieb sowie Panzerversionen für Politik und Staatsoberhäupter. Zudem gibt es Maybach- und AMG-Varianten mit noch mehr Dampf und noch mehr Luxus. Während die Konkurrenz hier zurückfährt, bleibt auch ein V12 bei der neuen Generation im Portfolio. Anfangs hatte die Daimler-Verantwortlichen in Betracht gezogen, die Topmodell mit zwölf Zylindern ebenfalls zu streichen. Doch mittlerweile ist durchgesickert, dass der bisherige V12-Motor so lange als nur möglich im Programm bleiben wird - erstmals auch als Allradversion. Jedoch hat AMG bereits den Kopf geschüttelt und auch die normalen S-Klassen müssen sich wohl mit Sechs- und Achtzylindertriebwerken begnügen.