Sowohl OEMs als auch Zulieferer stehen mit Blick auf Sitze vor komplexen Zielkonflikten. Zu den Ansprüchen an Komfort, Funktionalität und Raumausnutzung zählen auch strenge Kosteneffizienz in der Fertigung sowie Nachhaltigkeit über den gesamten Lebenszyklus.
Neue Fahrzeugklasse, neue Wege bei Rohstoffen: Bezogen auf das Gesamtfahrzeug hat der BMW iX3 50 xDrive eine berechnete Sekundärrohstoffquote von zirka 33 Prozent.BMW
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Moderne Fahrzeugsitze müssen zahlreiche Anforderungen
gleichzeitig erfüllen: Komfort, Flexibilität und ja: sogar Konnektivität stehen
dabei ebenso im Fokus wie die Themen Nachhaltigkeit, Sicherheit und
Kosteneffizienz. Dies betont man auch beim Anbieter von Automobilsitzen Adient,
ein Unternehmen, das mit sämtlichen Stufen der Herstellungsprozesse von Sitzen
betraut ist und in seinen Produktions- und Montagewerken in 29 Ländern rund
70.000 Mitarbeiter beschäftigt.
Relax Position beim System des Sitzherstellers Adient.Adient
Vor dem Hintergrund des Geflechts an Herausforderungen bei
Sitzen hat der Zulieferer kürzlich ein neues Sitzkonzept vorgestellt, mit dem
man insbesondere im heiß umkämpften Segment der Fahrzeuge des unteren und
mittleren Preissegments neue Maßstäbe setzen will. Mit „Pure Ergonomics“ sollen
trotz schlanker, ressourcenschonender Bauweise bis zu 60 Millimeter zusätzliche
Beinfreiheit für Passagiere in der zweiten Reihe geschaffen werden – klingt
nach wenig, ist aber eine Ansage. Erreichen will man dies unter anderem
mithilfe eines neugestalteten Verstellsystems. Für dieses orientiert man sich
an der realen Biomechanik der Insassen. Zugleich soll das Design den
Materialeinsatz von Metall, Schaum und Verkleidungskomponenten reduzieren und
dadurch den ökologischen Footprint verbessern.
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„Zero-Gravity Position“ für das Software-defined Vehicle
Diesem Gesamtpaket an Lastenheftvorgaben soll eine enge
bereichsübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Entwicklungsteams und dies
in Kombination mit umfassender Kompetenz eines Systemanbieters gerecht werden,
heißt es beim Zulieferer. Der hat dazu das neue Sitzkonzept „Pure Ergonomics“
aus dem im Jahr 2023 fürs Premiumsegment vorgestellten „Autonomous Elegance“
weiterentwickelt. Mit der neuen Verstellfunktion passt sich der Sitz der
gewünschten Position dank eines anatomisch gestalteten Neigungsmechanismus‘ an,
der die natürliche Hüftbewegung nachbilden und unterstützen kann.
Elektronikkomponenten, Sensoren und Steuergeräte sowie Sicherheitslösungen wie
Airbag- und Gurtsysteme (Belt-in-Seat, BiS) wurden dabei direkt in die
Sitzstruktur integriert. Diese Integration wird Adient zufolge obendrein die
Montage im Fahrzeuginnenraum erheblich vereinfachen.
Hohe Sicherheit und gute Ergonomie gilt es bei Sitzen unter einen Hut zu bringen.Adient
Hervorzuheben ist beim konkreten Projekt das Augenmerk, das
der Zulieferer auf Fahrszenarien legte, in denen Passagiere auf den Vorder-
oder Rücksitzen in einer entspannten „Zero-Gravity Position“ sitzen können.
Gemeinsam mit dem Anbieter für Sicherheitslösungen Autoliv hat man eigenem
Bekunden zufolge „einen Durchbruch im Insassenschutz in
Schwerelosigkeitspositionen erzielt“. Potenzielle Auswirkungen eines Unfalls
auf den Nacken, den Oberkörper, Kopf und Wirbelsäule sollen sich erheblich
reduzieren lassen, heißt es seitens der Entwickler. Zusätzliche seitliche
Airbags sollen außerdem erhöhten Schutz bei einem Seitenaufprall gewähren. Die
kooperierenden Unternehmen setzen dazu auf spezielle Sensoren, die eine
drohende Kollision frühzeitig erkennen und den Sitz automatisch in eine
aufrechte Position bringen. Diese Entwicklungen sollen direkt auf die
Anforderungen moderner Fahrzeugarchitekturen einzahlen, insbesondere mit Blick
auf moderne Software-defined Vehicles (SDV).
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Ein Evergreen bei Autositzen bleibt
ausgeklügelte Mechanik
Im Oktober meldete sich mit Forvia ein weiterer wichtiger
Interieur-Player mit einer Entwicklung, die den Sitzkomfort, die Gesundheit und
die Sicherheit während der Autofahrt verbessern soll. Grundlage des
Sitzkonzepts ist ein Auftrag, der Sitzkomfortlösungen für drei Modelle von
Hyundai und Kia umfasst, die ab 2027 in Europa und den USA auf den Markt kommen
werden. Kern des Auftrags ist ein kompaktes, vierfach verstellbares
pneumatisches Lordosenstützsystem, bei dem zwei Luftkammern mit einem integrierten
elektronischen Pumpensystem zur Steuerung des Luftstroms kombiniert werden.
Damit soll sich die Tiefe und Höhe der Lordosenstütze präzise einstellen
lassen, um die Wirbelsäule optimal unterstützen zu können. Dadurch will man
körperliche Beschwerden verringern und Rückenschmerzen sowie Ermüdung,
insbesondere auf längeren Fahrten, vorbeugen. Hyundai Kia habe sich für die
Lösung nach eingehender Prüfung der derzeit auf dem Markt verfügbaren Systeme
entschieden, betont man bei Forvia.
Forvia setzt auf eine vielfach verstellbare Lordosenstütze.Forvia
Die bereits bestehende Zusammenarbeit mit dem koreanischen
Autokonzern wird auf die Lieferung von Sitzrahmen und -mechanismen ausgedehnt,
wodurch Forvia insbesondere die Produktion in seinem Werk im südkoreanischen
Yeongcheon langfristig sichern und dessen Auslastung aufrechterhalten kann. Die
Zusammenarbeit mit dem OEM begann 2002 mit der Gründung eines Joint Ventures
mit Daeki Industries zur Belieferung von Hyundai-Werken in China, Indien und
den USA mit Abgasanlagen. 2005 übernahm Forvia dann die vollständige
Eigentümerschaft über das Joint Venture und begann mit der Belieferung von
Kia-Produktionsstätten in der Slowakei und Mexiko. Seit 2016 liefert Forvia
auch Sitzrahmen an Hyundai-Kia. Wie man beim Sitzexperten betont, handelt es
sich beim Auftrag über das Lordosensystem um das erste Mal, dass man von
Hyundai-Kia die Order erhalte, Sitzkomfortlösungen für Fahrzeuge zu liefern,
die außerhalb des koreanischen Marktes produziert und verkauft werden.
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Ebenfalls noch jung im Forvia-Programm ist das auf der Auto
Shanghai vorgestellte Zen Massage-System. Das motorisierte 4D-Massagesystem
wurde entwickelt, um den Entspannungseffekt hochwertiger Heim-Massagesessel
nachzuahmen, ein System, das dem Zulieferer zufolge wesentlich leistungsstärker
als alle derzeit auf dem Automobilmarkt verfügbaren Massagesysteme sein soll
und eine Vielzahl von Massagetechniken bietet. Mit geringer Geräuschentwicklung
und ohne metallisches Klopfen oder Pfeifen soll es zu einer ruhigen und
angenehmen Atmosphäre beitragen. Konzipiert wurde es speziell für den
chinesischen Markt, auf dem die erwähnten Heim-Massagesessel besonders gefragt
sind. Forvia wird das System an den Hersteller IM Motors liefern, ein von der SAIC
Motor Corporation, Zhangjiang Hi-Tech und der Alibaba Group gegründetes
Unternehmen, das Elektrofahrzeuge herstellt.
Industrie 4.0-Technologien bringen die Sitzfertigung auf
den Punkt
Neben moderner Features am Fahrzeugsitz selbst spielen für
Automobilhersteller das Einhalten hoher Sicherheits- und Qualitätsstandards
sowie zuverlässige Lieferung eine gewichtige Rolle. Zu den namhaften
Herstellern von Komplettsitzen, die sich auf diesen Feldern zu Wort melden,
zählt Lear. Das Unternehmen nimmt nichts weniger als „Pionierarbeit im Bereich
der Just-in-Time-Fertigung (JIT) für die Automobilsitzproduktion“ für sich in
Anspruch. Der Zulieferer unterhält aktuell 83 JIT-Werke in 37 Ländern und nennt
beim Volumen fast 20 Millionen Sitzvarianten rund um die Uhr, sieben Tage die
Woche. Dank einzigartiger, firmeneigener Prozesse und des starken Engagements
der Mitarbeiter setze man Maßstäbe in puncto operativer Leistung, heißt es beim
Zulieferer, der auf seine Designs mit intelligenten Funktionen sowie die
patentierten modularen Unterbaugruppen hinweist.
Zu den Besonderheiten der Produktion zählt die
Industrie-4.0-Technologie „Thagora“. Sie soll bedeutende Fortschritte in der
Fertigung durch optimierte Prozesse in den Bereichen Engineering und Logistik
ermöglichen. Mithilfe hochpräziser Digitalisierung von Leder will man bei Lear
den gesamten Prozess effizienter gestalten. Zur Ermöglichung der digitalen
Transformation gehören fortschrittliche Reporting-Tools sowie eine vollständige
Integration in die ERP-Systeme. Dazu zählt eine detaillierte Analyse der gesamten
Produktionskette; für jeden Prozessschritt entwickle man automatisierte
Lösungen, heißt es bei Lear. Die Offline-Workflow-Technologie beinhaltet
spezialisierte Stationen für jeden Prozessschritt. Deutliche
Effizienzsteigerungen in der Produktion lassen sich Lear zufolge aufgrund der
proprietären Scantechnik, einer hohen Ausbeute durch die Verschachtelung
mehrerer Lederhäute sowie optimierte Strategien für Schnittguterfassung und
Qualitätskontrolle erreichen.
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Hersteller heben den Rezyklat-Anteil bei Sitzen deutlich
an
Gerade mit einem Blick auf die bevorstehende End-of-Life
Vehicles Regulation (ELVR) müssen Sitzanbieter das Thema Rezyklat-Anteile neu
denken. Bei Adient etwa begegnet man den Anforderungen in Form diverser
Projekte mit Kunden, Partnern und Hochschulen. Mit ihnen arbeitet der
Zulieferer daran, den Anteil recycelten Plastiks in den Produkten schrittweise
zu erhöhen und, wo möglich, End-of-life-Material anstelle neuer Kunststoffe zu
verwenden. Im Vergleich zu Programmen mit SoP in den 2020er Jahren, gelinge es
den Rezyklat-Anteil von ursprünglich null auf aktuell bis zu 50 Prozent zu
steigern, hört man vom Unternehmen. Zu den Leuchttürmen zählt ein Pilotprojekt
mit dem Automobilhersteller Jaguar Land Rover und dem Kunststoffhersteller Dow
Chemicals. Adient zufolge gelang es darin erstmals, 20 Prozent End-of-Life
Polyurethan (PU)-Schaum in die Produktion von Autositzen zu integrieren und
somit den Kreislauf zu schließen.
Sitzneuheiten der Premium-OEMs zielen auf Komfort und
Nachhaltigkeit
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Im hart umkämpften Segment der Mittelklasse und
Reiselimousinen ist das Publikum stets gespannt, mit welchen Neuerungen gerade
die Premiumhersteller wie Audi, BMW und Mercedes-Benz aufwarten. Audi bewirbt
seinen 2025 lancierten neuen A6 insbesondere im Interieur über das Virtual
Cockpit , bei dem man kapazitive Schaltflächen durch physische Bedienelemente
ersetzt. Dies geht einher mit Neuerungen bei den Sitzen. So kommen im Audi A6
mit Verbrennerantrieb (PPC) in der ersten Sitzreihe ein neue Kontursitze zum
Einsatz, der Komfort und Seitenhalt nochmals verbessert. Wie schon beim A7 sind
diese schlank gestaltet und leichter als beim Vorgängermodell. Die Top-Sitze
lassen sich vielfach elektrisch einstellen, Wangen und Lordosen-stütze arbeiten
pneumatisch. Auf Wunsch gibt es zudem Heizung und Belüftung, jeweils in drei
Stufen regelbar, sowie eine vielseitige Massagefunktion. Jede Lehne birgt zehn
blasenförmige Luftkörper, sie massieren den Rücken in sieben Programmen und
drei Intensitäten.
Neben der Funktionalität steht bei den Autoherstellern
insbesondere Nachhaltigkeit im Fokus. Gerade wenn man die Sitze selbst fertigt
und zudem eine völlig neue Fahrzeugklasse lanciert. Diese Aspekte treffen auf
BMW zu, deren Neue Klasse mit dem SUV-Modell iX3 als erstem Derivat derzeit in
aller Munde ist. Beim OEM weist man darauf hin, dass das Fahrzeug zu rund einem
Drittel aus Sekundärrohstoffen besteht. So sind etwa das Staufach unter der
Frontklappe sowie die Motorraumabdeckung zu 30 Prozent aus recyceltem
Kunststoff gefertigt. Das Grundmaterial des Garns für den Sitzbezug Econeer,
der Textil-Dachhimmel und die Fußmatten bestehen zu 100 Prozent aus recyceltem
PET.
BMW fertigt am Standort München bis zu 3.000 Sitze am Tag
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Im Rahmen seines weltweiten Produktionsnetzwerks produziert BMW in seinem Stammwerk München 900 bis 1.000 Fahrzeuge
pro Tag. Dies entspricht zirka 2.700 bis 3.000 Sitzen (Sitze und Sitzbänke) je
Arbeitstag. Die Sitzefertigung im Werk meistert dabei die hohe Varianz an
Materialien und Funktionen und liefert alle Sitze für die Fahrzeugproduktion im
Münchener Werk. Lediglich Lederbezüge für Carbon-Schalensitze und Sitze für
Sonderserien werden aus der Individualmanufaktur in Dingolfing bezogen. Beim
Automobilhersteller betont man, dass die In-House-Sitzefertigung am Standort in
vielerlei Hinsicht besonders ist. So werden in München alle Sitze, von
klassischem Leder über Stoff bis hin zu veganen Oberflächen, auf einer einzigen
Produktionslinie gefertigt.
Sitzefertigung im BMW-Stammwerk in München. Bis zu 3.000 Sitze fertigt der OEM pro Tag.www.guenterschmied.com
Zu den Fakten der hauseigenen Sitzefertigung betont man bei
BMW auf Anfrage von Automobil Produktion: „Die unterschiedliche Komplexität von
Sitzen hat zu variierenden Fertigungszeiten zwischen 68 und 140 Minuten je nach
Ausstattung und Modell zur Folge. Zudem beeinflusst eine schwankende Verbau-Rate
die Auslastung“. Die In-House-Sitzefertigung ist beim OEM an die
Fahrzeugmontage und deren Taktzeiten gekoppelt. Verzögerungen oder Anpassungen seien daher immer ein Balanceakt zwischen Flexibilität und Effizienz und würden
die Innovationskraft der Sitzefertigung unterstreichen, heißt es beim OEM.
Auch der wachsende Klassikermarkt wird mit
Qualitätsstoffen bedient
Der Markt für klassische Fahrzeuge, historische Autos und
Youngtimer boomt, und mit ihm wächst auch die Nachfrage nach Sitzmaterialien und
Stoffen in Originalqualität. Sei es zur Reparatur oder zur fachgerechten
Restaurierung nach OEM-Vorgaben. Erst kürzlich meldete Porsche, seine
ikonischen Stoffmuster wie „Pascha“, „Schottenkaro“ und „Pepita“ wieder zur
Verfügung zu stellen. Denn im Markt finden sich viele Imitationen, die entweder
gar nicht als Sitzstoff geeignet sind oder bereits nach kurzer Zeit ihre Optik
verlieren, weiß Ulrike Lutz, Leiterin Classic bei Porsche. Der
Sportwagenhersteller hat die Materialien im Rahmen eines Projekts nun wieder
aufgelegt, um eine getestete Original-Alternative zu bieten. Als Referenz für
den Ur-Zustand dient das Technische Zertifikat für Porsche-Klassiker.
Porsche bietet klassische Muster und Stoffe an, die auch bei Young- und Oldtimern den hohen Standards der Automobilindustrie entsprechen.Porsche
„Wir schließen mit der Neuauflage eine Lücke, denn die
meisten Kunden möchten bei einer Restaurierung möglichst exakt den
Auslieferungszustand ihres Old- oder Youngtimers wiederherstellen“, so Lutz.
Porsche gibt dabei sowohl für Haptik und Langlebigkeit als auch für die
Exaktheit der teils ausgesprochen komplizierten Muster und Farbkombinationen
sein Okay. Die neu aufgelegten Stoffe durchlaufen eine Reihe von Tests etwa zu
Feuerfestigkeit, Licht- und Farbechtheit oder Abrieb. Dadurch eignen sie sich
dem Sportwagenhersteller zufolge ideal für eine Vielzahl von Anwendungen im
Fahrzeuginnenraum, neben Sitzbezügen etwa auch für Seitenverkleidungen. Als
Infoquelle für die Neuauflagen bildete das unternehmenseigene Archiv die Basis,
zu Anschauungszwecken habe man zusätzlich rare Lagerware erwerben können, heißt
es beim Sportwagenhersteller. Die Stoffe sind nun bei den Porsche-Zentren oder
im Porsche-Onlineshop erhältlich.