Christoph Seeger und sein Team müssen "Materialien entwickeln, die nicht nur funktional und ästhetisch überzeugen, sondern auch vollständig recyclingfähig sind".(Bild: Continental)
Neue EU-Vorgaben für Materialien des Fahrzeuginterieurs verlangen eine gesamtheitliche Denkweise. Christoph Seeger von ContiTech spricht im Interview über Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, cleveres Materialdesign und dessen Industrialisierung.
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Herr Seeger, die Themen Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft rücken zunehmend in den Fokus – nicht zuletzt durch neue EU-Vorgaben. Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell und künftig, insbesondere für Ihr Unternehmen?
Die neuen EU-Vorgaben, etwa zur Altfahrzeugverordnung, auf Englisch: End-of-Life Vehicle (ELV) Directive, die aktuell in den EU-Gremien für eine Verabschiedung im September vorbereitet wird, setzen klare Ziele: ein steigender Rezyklatanteil in Fahrzeugkunststoffen, eine verbesserte Materialkennzeichnung und die Einführung eines digitalen Circularity Passports. Als besondere Herausforderung für die Automobilhersteller gilt dabei, dass ein Teil des Rezyklats nachweisbar aus verschrotteten Fahrzeugen stammen muss. Die ELV Directive ist ein Paradigmenwechsel – und aus unserer Sicht eine große Chance. Für uns als ContiTech bedeutet das: Wir müssen Materialien entwickeln, die nicht nur funktional und ästhetisch überzeugen, sondern auch vollständig recyclingfähig sind. Die Herausforderung liegt darin, diese Anforderungen in Einklang zu bringen – bei gleichzeitig begrenzter Verfügbarkeit nachhaltiger Rohstoffe und hohen Qualitätsansprüchen der Automobilindustrie. Hinzu kommt eine Herausforderung, die in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen ist, die den Fahrzeugherstellern dafür aber umso bewusster ist: Recycling ist nicht gleich Recycling. Und die verschiedenen Recyclingverfahren sind sehr unterschiedlich aufwändig und damit teuer. Die Herausforderung besteht also nicht einfach darin, mehr zu recyceln, sondern darin, das Recycling so einfach zu machen, dass es auch wirtschaftlich darstellbar ist und nicht am Ende neue Autos signifikant teurer werden lässt.
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Rezyklate aus verschrotteten Fahrzeugen nutzen, hört sich gut an. Kann man schon sagen, wie hoch deren Anteil sein wird und wie der von Ihnen beschriebene Nachweis in der Praxis gelingen soll?
Die Directive mit den finalen Prozentsätzen ist noch nicht beschlossen. Die letzten Pressemitteilungen zeigen aber ein geplantes Bild von 15 bis 25 Prozent auf, wobei unterschieden wird in Rezyklat allgemein und Rezyklat, das nachweislich aus verschrotteten Autos stammen muss. Aus den geplanten EU-Vorgaben lässt sich schon jetzt die Ansage ableiten, dass man als Unternehmen mit seinen Produkten recyclefähig sein und dies auch nachweisen können muss. Der spannende Punkt dabei: dies bedarf neuer Geschäftsmodelle, da es heute keine flächendeckende Recyclingindustrie für Autos gibt. Nachweise über die eingesetzten Materialien müssen letztlich die Hersteller, die OEMs, erbringen. Damit dies gelingt, können wir ihnen die Möglichkeit bieten, – im Idealfall von uns – bereits so konzipiertes und designtes Material einzusetzen, mit dem ihnen ein schneller Aufbau gelingt und das sie am Ende des Lebenszyklus‘ auch gerne an uns oder einen anderen Recyclierer zurückschicken können, der es dann wieder dem Kreislauf zuführt.
Viele Innenraummaterialien bestehen aus komplexen Verbundstoffen. Wie begegnen Sie als Hersteller dieser Problematik?
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Unser Ansatz heißt „Designed for Recycling“. Wir setzen auf Monomateriallösungen – konkret auf thermoplastische Polyolefine (TPO). Für unsere Produktlinie Xpreshn haben wir eine Oberfläche entwickelt, bei der alle Schichten – von der Trägerstruktur bis zur äußeren Folie – aus chemisch ähnlichen und relativ leicht recycelbaren Materialien, TPO-basiert, bestehen. Das ermöglicht ein sortenreines Recycling ohne aufwändige Trennprozesse. Besonders stolz sind wir darauf, dass wir sogar Produkte mit Textilschichten als Monomaterialkonzept realisieren können – ein Meilenstein für zum Beispiel hochwertige Instrumententafeln.
Gibt es bislang verwendete Materialien, die im Sinne einer Kreislaufwirtschaft als eher problematisch gelten, die sich aber womöglich mit Blick auf Verschleiß, Hitze- und UV-Beständigkeit im Automotive-Einsatz gut bewähren?
Bei ContiTech finden wir „Material-driven solutions“, wie es unser Slogan betont. Zusammen mit unseren Kunden müssen wir zwar immer wieder Neues schaffen, der Kern all dessen, was Einzug ins Automobil findet, wird aber immer Material im faktischen Sinne sein. Dieses kann und wird nie substituiert werden, etwa durch eine AI. Oberflächen sind immer real und hier sind wir mit all unserer Erfahrung gut im Markt positioniert. Konkret zu Ihrer Frage: Alle chemischen Basen und Stoffe, die wir in Innenräumen einsetzen, vom PVC bis hin zum TPO, haben sich im Markt bewährt. Fraglich ist allenfalls die Tauglichkeit für bestimmte Einsatzorte. Ein Beispiel ist TPO im Sitz, das wir dort nicht anbieten, da es im Sitz nicht die gewünschte Abriebfestigkeit bietet, wie etwa Polyurethan oder PVC. Genau hierin besteht die Kunst: bei der Performance des Produkts und gleichzeitig der Nachhaltigkeit keine Einschränkungen zu machen. Hierfür bedarf es top Materialexperten, die wir zum Glück an Bord haben.
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Welche sind die größten Hürden beim Umdenken?
Die Hürden sind technischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur. Viele Innenraumkonzepte basieren auf etablierten Multimaterialien, die sich über Jahrzehnte bewährt haben. Ein Umdenken erfordert Mut zur Veränderung – und Investitionen. Zudem sind die Anforderungen an Optik, Haptik, Geruch und Langlebigkeit im Fahrzeuginnenraum extrem hoch. Denken Sie an den entscheidenden Moment, wenn sich ein potenzieller Käufer zum ersten Mal auf den Fahrersitz setzt: Da spielt der Eindruck, den die Oberflächen machen, eine bedeutende Rolle. Rezyklate oder biobasierte Materialien müssen diese hohen Anforderungen erst einmal erreichen – und das zu wettbewerbsfähigen Kosten. Zudem waren wir es bislang immer gewohnt, unsere Oberflächenmaterialien zu 100 Prozent für unsere Kunden und ihre Anwendung zu optimieren. Nun müssen wir über die Herstellung des Fahrzeugs und dessen Nutzung hinausdenken und die Frage stellen: Wie machen wir unsere Produkte kreislauffähig?
Das Fahrzeug-Interieur gerät zunehmend in den Fokus und verlangt nach ganzheitlichen Konzepten im Umgang mit Materialien.(Bild: Continental)
ContiTech hat mit seinen Materialkenntnissen und seiner Industrialisierungs-Expertise hierbei sicherlich gute Karten. Wie darf man sich die Entwicklung neuer Oberflächen in Ihrem Hause vorstellen? Wie sind die Kenntnisse verteilt, etwa zwischen klassischem Engineering, der Physik und der Chemie?
R&D arbeitet bei ContiTech immer eng am Thema Industrialisierung. Die Teams befassen sich früh damit, all das, was im Labormaßstab entwickelt wurde, auch zu operationalisieren. Hinzu kommt eine enge Zusammenarbeit mit genau den Kunden, die Nachhaltigkeit definitiv wollen und sie auch leben. Wir nehmen dazu die Kundensicht ein und betrachten Entwicklungen aus deren Perspektive. Gleichzeitig verfügen wir auf Seiten der Forschung über sehr viele Partnerschaften, etwa mit Forschungsinstituten und Start-ups. Dadurch bekommen wir sehr gut die Trends auf der Technologieseite mit. Unsere Aufgabe ist es letztlich, diese Technologieseite mit den Marktbedürfnissen zu verheiraten.
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Nachhaltigkeit erfordert ein ganzheitliches Denken entlang der Wertschöpfungskette. Wie gelingt Ihnen das in der Praxis – und mit welchem Aufwand?
Tatsächlich ist das eine der größten Herausforderungen. Wir arbeiten eng mit Rohstofflieferanten, Maschinenbauern, OEMs und Recyclingpartnern zusammen. Nur wenn alle an einem Strang ziehen, kann ein zirkuläres Produkt entstehen. Das bedeutet für uns: mehr Abstimmung, höhere Anforderungen an Transparenz und Dokumentation, in gewissem Maße auch eine neue Denkweise. Aber dieser Aufwand zahlt sich aus – ökologisch und ökonomisch. Denn nachhaltige Lösungen werden zunehmend zum Differenzierungsmerkmal im Markt. Wer die größte Materialkompetenz hat, der kann seinen Kunden auch schnell, ökonomisch und vor allem bei mindestens gleichbleibender Qualität, Produkte aus einem neuen, nachhaltigeren Materialmix bieten.
In vielen Fahrzeugsegmenten scheint es nicht nur aufgrund der Gesetze ein Umdenken in Richtung wieder aufbereiteter Materialien zu geben. Dennoch sind auch heute Ledersitze, Lederlenkräder oder lederbezogene Armaturentafeln weiter gefragt.
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Die Entscheidung darüber obliegt immer den OEMs. Was man jedoch feststellen kann: Der Echtleder-Anteil ist rückläufig, auch aus Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit. Kunden fragen verstärkt nach veganem Leder, nach Material, für das keine Tiere sterben, keine Wälder abgeholzt werden müssen. Ein weiterer Trend zeichnet sich über die Frage ab, was eigentlich in einem jeweiligen Produkt enthalten ist, und es rückt das Thema Gesundheit zunehmend in den Fokus. OEs fragen hier nach Zertifizierungen, wie etwa nach ISCC Plus (Anm. d-. Red.: International Sustainability & Carbon Certification, ein weltweit anerkanntes, freiwilliges System zur Zertifizierung von Nachhaltigkeit und Treibhausgasemissionen). Dabei geht es um den Einkauf nachweislich nachhaltiger Rohstoffe, wie wir ihn etwa in unserem Werk in Eislingen betreiben. Dies ist vor allem für die OE-Seite relevant. Auf Seiten der Endverbraucher nehmen wir zudem den Trend wahr, dass insbesondere in Europa verstärkt danach gefragt wird, was in den Materialien für Pkw und Lkw genau drinsteckt. Asien ist hier noch nicht so weit wie Europa.
Der Fahrzeuginnenraum ist die direkte Schnittstelle zum Menschen. Welche Vorteile bieten recyclingfreundliche Werkstoffe in Bezug auf Komfort und Gesundheit?
Unsere TPO-basierten Materialien sind emissionsarm, hautfreundlich und frei von problematischen Weichmachern oder Gefahrstoffen. Sie erfüllen höchste Standards in Bezug auf Ausdünstung und Geruch. All das vielfach zertifiziert, zum Beispiel nach dem OEKO-TEX 100-Standard. Zu all diesen Faktoren forschen wir intensiv. Allgemein lässt sich sagen, dass unsere umfassende Forschungsabteilung und die Einbettung in den Continental-Unternehmensbereich ContiTech mit seiner Materialkompetenz uns einen komparativen Vorteil verschaffen, um umweltfreundlichere Materialen frühzeitig und ohne Abstriche bei den Erwartungen der Kunden auf den Markt zu bringen. Unsere zahlreichen Expertinnen und Experten für Nachhaltigkeit, darunter dezidierte Experten für Kreislaufwirtschaft oder auch für das Thema CO2-Berechnung sowie technische Compliance, helfen ebenfalls sehr, um hier zuverlässig frühzeitig die Innenraummaterialien anbieten zu können, die die Automobilindustrie in Zukunft braucht.
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Das gesamte Thema Kreislauffähigkeit bedeutet mehr Aufwand. Zum Nulltarif wird dies nicht funktionieren…
Alle Akteure in der Wertschöpfungskette, vom Vorlieferanten, über den Zulieferer bis hin zum Hersteller und Handel, müssen klarmachen, dass kreislauffähige Produktion von Innenraumoberflächen nicht zum Nulltarif zu haben ist. Uns als Zulieferer sehe ich dabei in einer proaktiven Rolle. Mit Blick auf den Erhalt unser aller Lebensgrundlage sehe ich uns als Pionier für die Zukunft, dem die Rolle zukommt, Nachhaltigkeit und Recycling als Mehrwert zu positionieren. Neben Investitionen in Forschung und Entwicklung verfolgen wir insbesondere auf der Technologieseite immer auch das Ziel, neue Produkte auf bestehenden Anlagen industrialisieren zu können. Dies erfolgt auch mit einem Fokus darauf, all die Anforderungen zu einem guten Preis anbieten zu können.
Zur Person:
(Bild: Continental)
Christoph Seeger, Jahrgang 1980, ist Leiter des Geschäftssegments Automotive Interior im Continental-Geschäftsfeld ContiTech Surface Solutions. Er verfügt über einen Master in Business Administration, Management and Operations der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und übernimmt bereits seit 2005 in wechselnden Rollen Führungsverantwortung bei ContiTech, dem Geschäftsbereich, in dem Continental seine materialgetriebenen Lösungen für eine Vielzahl an Industrien bündelt. Seit 2023 verantwortet er das Geschäftssegment Automotive Interior und damit das Geschäft mit Oberflächen, etwa für Autositze, Türpanele oder Instrumententafeln.