Henner Lehne, Vice President Vehicle & Powertrain Group bei S&P Global Mobility sprach auf dem Automobil Produktion Kongress 2023 in München.

Henner Lehne, Vice President der Vehicle & Powertrain Group bei S&P Global Mobility sprach auf dem Automobil Produktion Kongress 2023 in München. (Bild: FacesbyFrank)

Herr Lehne, wir haben zuletzt im Herbst 2022 miteinander gesprochen. Nun ist das Automobiljahr 2023 in den Büchern. Wie fällt ihr Fazit aus?

Es war ein gutes Jahr für die Fahrzeugproduktion mit fast 90 Millionen Einheiten. Damit ist das Vorkrisenniveau von 2019 erreicht. Obwohl die Produktionszahlen hoch sind, bleibt die Nachfrage mit etwa 86 Millionen aber hinter den Erwartungen zurück. Das führt zu einem erhöhten Lagerbestand. Diese Bestände müssen nun abverkauft werden. Das beeinflusst die Wachstumserwartungen für dieses Jahr. Man kann allerdings festhalten: Trotz Herausforderungen wie Lieferengpässen und Chipmangel ist die Branche aus der Krise gut herausgekommen. Die Automobilindustrie hat sich allerdings verändert: Neue Akteure – besonders aus China – verändern den Markt und das Thema Elektromobilität bleibt kontrovers. Der hohe Kostendruck und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verstärkt durch hohe Zinsen prägen weiterhin die Branche.

Welche Player sind denn besonders gut durch die Krise gekommen?

Nicht viele. Die meisten etablierten Autohersteller haben seit der Krise Schwierigkeiten, ihre Kapazitäten auszulasten – außer Toyota, die sich gut behaupten. Hyundai hat sich stabil gehalten, BMW ist leicht gewachsen. Aber ansonsten stehen eigentlich sämtliche Hersteller schlechter da als vor der Krise. Das liegt nicht zuletzt an der Schwäche im Chinageschäft. Dort haben lokale Hersteller wie BYD ordentlich zugelegt und setzen traditionelle westliche sowie japanische und koreanische Hersteller massiv unter Druck. Tesla hat bis dato gute Leistungen gezeigt und führt die Transformation zu Elektrofahrzeugen in den westlichen Märkten an, was zusätzlichen Druck auf etablierte Hersteller ausübt.

Gerade mit Blick auf Tesla häufen sich in letzter Zeit eher die Negativschlagzeilen. Hat die Entwicklung des E-Auto-Pioniers einen Knick bekommen?

Das ist schwer zu sagen. Tesla hat zahlreiche kritische Phasen durchstanden, die potenziell das Ende des Unternehmens hätten bedeuten können, zeigt weiterhin jedoch eine robuste Leistung, auch wenn die Marge von 9,2 Prozent in 2023 nicht an die Stärke von 2022 anknüpfen kann. Diese Marge übertrifft immer noch die der meisten anderen Wettbewerber im Automobilsektor. Tesla scheint die herkömmlichen Marktgesetze außer Kraft zu setzen. Die eigene Börsenstory spielt eine zentrale Rolle für das Unternehmen, das sich dadurch finanziert und seine Marktposition festigt. Im Bereich der Elektroautoproduktion sieht man aber auch, dass dieser Weg nicht immer linear verläuft und es durchaus zu Rückschlägen kommen kann. Entscheidend wird sein, wie die Facelifts des Model 3 und Model Y laufen und wann das vielbeschworene Kompaktmodell kommen wird.

Ganz grundlegend gefragt: Wie muss ein OEM aufgestellt sein, um gut durch Krisen zu navigieren, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben?

Flexibilität ist entscheidend. Tesla und chinesische Hersteller haben gezeigt, dass eine klare Fokussierung auf E-Autos schnell zu hochwertigen Produkten führen kann. Studien zeigen, dass sie technologisch bis zu zwei Fahrzeuggenerationen vor Konkurrenten liegen, die sich noch zu sehr auf Verbrennungsmotoren konzentrieren und den Übergang zu Elektrofahrzeugen hinauszögern. Diese Diskrepanz wird sich nicht so schnell schließen lassen. Allerdings verfügen nicht viele Hersteller über die finanziellen Mittel, eine Doppel-Strategie zu verfolgen. Toyota und Hyundai sind gewissermaßen Gegenbeispiele. Trotz einiger Versäumnisse bei der Entwicklung reiner Elektrofahrzeuge haben beide eine breite technologische Basis und können verschiedene Antriebsarten bedienen. Es ist Toyota zuzutrauen, einen Technologiezyklus zu überspringen und direkt zu Feststoffbatterien überzugehen. Auch die geografische Verbreitung von Toyotas Absatzmärkten, viele davon in weniger regulierten Regionen, erlaubt es dem Konzern, ohne Druck zu agieren. Die Koreaner hingegen haben ihre Strategie auf Batterieelektrik ausgerichtet und haben bereits hochentwickelte Fahrzeuge auf den Markt gebracht, die sich mit Tesla messen können.

Haben nun die neuen Player Vorteile oder doch die etablierten Hersteller mit ihrem Knowhow?

In dieser Zeit der schnellen Transformation ist es schwer, traditionelle Unternehmensstrukturen und eingefahrene Prozesse zu ändern. Unternehmen, die von Anfang an als Technologieunternehmen starten, haben hier klare Vorteile, besonders wenn es darum geht, Elektrofahrzeuge profitabel und zu wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten. Etablierte Hersteller haben die Herausforderung, ihre Elektro-Programme gegenfinanzieren zu müssen. In den USA machen das viele Hersteller durch den Verkauf von Pickups, während deutsche Premiummarken auf High-End-Fahrzeuge setzen. Honda hat sich beispielsweise mit Sony zusammengetan, um technologische Synergien zu nutzen, was vielversprechend aussieht. Meiner Ansicht nach haben sie gut erkannt, dass das Gesamtkonzept der Mobilität sich ändern wird – es geht nicht nur um einen Antriebswechsel, sondern um eine komplette Transformation der Art und Weise, wie Mobilität konsumiert und erlebt wird.

Viele Zulieferer tun sich mit diesem Wandel gepaart mit den Krisenjahren deutlich schwerer als die meisten OEMs. Können Sie den Lieferanten der Branche dennoch Mut machen?

Im letzten Jahr haben einige Zulieferer im Bereich der Verbrennerkomponenten unerwartet gute Geschäfte gemacht, da das Volumen stärker angestiegen ist als angenommen. Ursprünglich wurden für 2023 etwa 86 bis 87 Millionen Einheiten für die gesamte Produktion prognostiziert, tatsächlich wurden es rund 90 Millionen. Dieses gesamte Wachstum und die Verlangsamung des BEV-Hochlaufs haben dazu geführt, dass viele Zulieferer ein besseres Jahr im Verbrennergeschäft hatten als, erwartet. Gleichzeitig befindet sich der Zulieferbereich in einem starken Wandel, nicht nur in Bezug auf Antriebstechnik sondern auch finanziell. Die hohen Zinsen sowie die gestiegenen Kosten für Rohstoffe und Strom stellen große Herausforderungen dar. In dieser Situation ist es entscheidend, dass Zulieferer professionell planen und genau auswählen, welche Geschäfte sie tätigen wollen und welche nicht. Außerdem müssen sie in der Ausführung ihrer Projekte besonders effizient sein. Trotz der allgemeinen Marktvolatilität und der schwierigen Rahmenbedingungen könnten alle Zulieferer prinzipiell gute Geschäfte machen, vorausgesetzt, sie halten ihre Kosten und Strukturen unter Kontrolle und nutzen die Marktchancen effektiv.

Seit rund zehn Jahren begleiten die Branche die vier CASE-Themen aus Vernetzung, autonomem Fahren, Mobilitätsdiensten und der E-Mobilität. Um einige dieser Themen ist es stiller geworden. Verschläft die Branche ihre Zukunftsfähigkeit?

 Autobauer sind nun einmal keine Non-Profit-Organisationen. Sie sind darauf ausgerichtet, Profite und Shareholder Value zu generieren, nicht primär, um eine bessere Welt zu schaffen. Dies führt zu einem Balanceakt zwischen langfristiger Entwicklung und kurzfristiger Performance. Besonders im Bereich des autonomen Fahrens zeigt sich, dass frühere Versprechen bisher nicht realisiert wurden. Selbst in gut strukturierten urbanen Umgebungen wie San Francisco und Phoenix haben sich diese Technologien als nicht vollständig funktionsfähig erwiesen. Die Frage für die Hersteller ist nun, ob sie weiterhin in diese Technologie investieren, um möglicherweise die Ersten auf dem Markt zu sein, oder ob sie ihre Ressourcen besser anderweitig einsetzen sollten. Während in China die Entwicklung und Implementierung solcher Technologien durch schnelle staatliche Eingriffe und Infrastrukturanpassungen wahrscheinlicher ist, müssen Unternehmen anderswo wirtschaftlich sinnvolle Entscheidungen treffen, die oft in Halbzyklen der Innovation und Marktanpassung erfolgen. Die E-Mobilität, die sich bereits in ihrem dritten Zyklus befindet, zeigt, dass nach anfänglichem Hype oft eine Stagnation eintritt, bevor neue Fortschritte erzielt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem autonomen Fahren, der Connectivity und der Shared Mobility.

In welcher Region derzeit die Musik in der Autoindustrie spielt, ist klar: Die chinesischen OEMs sind es, die das globale Autoorchester zu dirigieren scheinen. Wie sehen Sie die Hersteller aus Fernost tatsächlich aufgestellt?

Chinesische Automobilhersteller haben sich zunächst auf günstige Verbrennermodelle konzentriert und sind in Märkten wie Südamerika und Afrika erfolgreich gewesen, bevor sie ihre Strategie auf Elektrifizierung und den europäischen Markt ausgeweitet haben. Trotz anfänglicher Erfolge sind viele dieser Unternehmen durch eine Phase gegangen, in der sie fast an den Rand des Scheiterns geraten sind. Der Markt in China ist sehr wettbewerbsintensiv. Die Herausforderung besteht darin, nicht nur Fahrzeuge in kleinen Stückzahlen zu verkaufen, sondern auch Skaleneffekte zu erzielen, um ein umfassendes Servicenetzwerk und hohe Verkaufszahlen zu realisieren. Einige Angebote, wie Heimlieferungen oder Pick-up-Services für Reparaturen, sind zwar attraktiv, stellen aber keine langfristig nachhaltigen Geschäftsmodelle dar. Darüber hinaus spielen staatliche Subventionen eine große Rolle in der chinesischen Automobilindustrie. Viele Hersteller werden von lokalen Regierungen unterstützt, um Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Subventionen können zu Marktverzerrungen führen und die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Fahrzeuge auf internationalen Märkten beeinflussen. Wenn Elektroautos in China zu deutlich niedrigeren Preisen als in Europa angeboten werden, kommen natürlich Fragen bezüglich der tatsächlichen Herstellungskosten und der Preisstrategie auf. Viele chinesische Hersteller versuchen, durch eine Hochpreisstrategie ein starkes Händlernetzwerk zu etablieren, was ihnen den Zugang zu neuen Märkten erleichtert. Langfristig könnten sie die Preise schnell senken, um massive Marktanteile zu erobern. Und man muss auch festhalten: Die Marktkonsolidierung in China, die seit Jahren erwartet wird, hat noch nicht stattgefunden.

Ein großer Vorteil der Chinesen ist ihre enorme Entwicklungsgeschwindigkeit. Auch die europäische Autoindustrie will „China Speed“ aufnehmen. Wie kann das gelingen?

Die „New Kids on the Block“ in der Autoindustrie nutzen natürlich ihre Gnade der späten Geburt aus. Sie überspringen traditionelle, langwierige Designprozesse, indem sie viel stärker auf digitale Technologien und Simulationsverfahren setzen. Dies ermöglicht es ihnen, Fahrzeuge in nur neun bis zwölf Monaten vom Entwurf bis zum Showroom zu bringen. Traditionelle Hersteller benötigen dafür oft drei Jahre oder länger. Gerade für Zulieferer stellt dies eine Herausforderung dar, da sie ihre Entwicklungsprozesse anpassen müssen, um sowohl den schnelleren Rhythmus der neuen Hersteller als auch die langsameren, etablierten Prozesse der alten Auto-Player bedienen zu können. Traditionelle Hersteller stehen wiederum vor der Frage, wie viel Risiko sie eingehen wollen. In diesem Zusammenhang bilden traditionelle OEMs Partnerschaften, um von den Agilitäts- und Effizienzvorteilen der neuen Player zu profitieren und ihre eigenen Prozesse zu beschleunigen. Beispiele hierfür sind Volkswagen und Stellantis, die lokale Partner in China gefunden haben.

Stichwort Kooperationen: Bestrebungen zu mehr Austausch sind in der Branche durchaus sichtbar. Könnte gerade darin ein entscheidender Hebel für mehr Geschwindigkeit liegen?

Definitiv! Ein gemeinsames Vorgehen in der europäischen Automobilindustrie wäre ähnlich wie in großen Einzelmärkten wie den USA oder China absolut sinnvoll. In Europa könnten wir von einer stärkeren Kooperation profitieren, insbesondere im Bereich der Einstiegsmobilität. Die Idee eines „Europa-Autos“, das kostengünstig ist und von allen Herstellern gemeinsam entwickelt wird, könnte solch eine Lösung sein. Dies würde nicht nur den Wettbewerb fördern, sondern auch soziale Aspekte berücksichtigen. Es ist nicht zielführend, nur im Hochpreissegment aktiv zu sein und den unteren Marktsegmenten keine Beachtung zu schenken. Die Preisdifferenz zwischen Verbrennern und Elektroautos führt dazu, dass Elektroautos auch auf dem Gebrauchtwagenmarkt teurer bleiben, was langfristig den Zugang zu Mobilität erschwert. Trotzdem bleibt die Koordination solcher Vorhaben schwierig, da viele nationale Interessen und wirtschaftliche Überlegungen im Spiel sind. Zudem behindern EU-Regularien effiziente Kooperationen durch Wettbewerbsrecht, was den Austausch zwischen den Unternehmen einschränkt.

Herr Lehne, werfen wir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft. Sie hatten in unserem letzten Gespräch ein Happy End vorausgesagt. Bleibt es bei der optimistischen Prognose?

Ich bin optimistisch, dass die Automobilindustrie, wie wir sie kennen, auch in den nächsten zwanzig Jahren noch existieren wird. Sie muss sich allerdings strukturell stark verändern. Die Branche befindet sich in einem Wandel, der normalerweise Jahrzehnte dauern würde, jetzt aber innerhalb von fünfzehn bis zwanzig Jahren erfolgen soll. Ein zentraler Punkt für die Zukunft der Industrie ist die Flexibilität. Die Hersteller müssen in der Lage sein, schnell auf Veränderungen zu reagieren und ihre Strategien anzupassen.

Zur Person:

Henner Lehne S&P Global Mobility Portrait

Henner Lehne ist aktuell Vice President Vehicle and Powertrain Group bei S&P Global Mobility (ehemals IHS Markit) und verantwortlich für die globalen Prognosedienste für den Verkauf und die Produktion von leichten Fahrzeugen. Er leitet ein erfahrenes Team von mehr als 150 Analysten, die den Automobilsektor in den wichtigsten Regionen der Welt abdecken. 2005 kam Lehne als Marktanalyst zu CSM Worldwide und prognostizierte den Fahrzeugabsatz in Europa. Seitdem hat er eine aktive Rolle in der Wachstumsstory des Automobilgeschäfts bei IHS Markit gespielt und das Team, die Forschung und die Analyse erweitert.

Sie möchten gerne weiterlesen?