
Zwölf unterschiedliche Modelle laufen im BMW-Werk Chennai vom Band. (Bild: BMW)
Traditionelle Blumengirlanden aus Hunderten weißer Blüten, festlicher Schmuck in der Eingangshalle des Werkes, ein Altar mit zahlreichen Figuren verschiedener Hindu-Götter und mittendrin BMW-Werkleiter Thomas Dose, der mit seinen Mitarbeitern indische Feiertage zelebriert. „Wir begegnen den indischen Kollegen auf Augenhöhe. Dazu gehört meiner Meinung nach auch das gemeinsame Feiern der traditionellen Feste, denn sie gehören zur Kultur dieser Menschen“, erklärt der Produktionsleiter beim Besuch der Automobil Produktion in Chennai. Während seiner unterschiedlichen Führungspositionen in Deutschland und Indien habe der Ex-Berater vor allem gelernt, Diversität zu schätzen und zu fördern. Folgt man Dose durch die Gänge des Werkes und beobachtet ihn bei der Interaktion mit seinem Team, wird diese gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligten schnell spürbar.
Mit rund 650 Beschäftigten und einem Volumen von ungefähr 15.000 Einheiten im Jahr 2023 gehört das SKD-Montagewerk (Semi-Knocked-Down) definitiv zu den kleineren Standorten im Produktionsverbund des Münchner Automobilherstellers. Die Fertigung in Südindien startete im März 2007 zunächst im Einschichtbetrieb mit der Montage von zwei Modellen (3er- und 5er-Reihe) und wurde 2013 auf einen Zweischichtbetrieb erweitert, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Aktuell laufen zwölf verschiedene Modelle in Indien vom Band: die 3er-Serie, 5er-Serie und 7er-Serie, die Gran Turismo Derivate der 3er- und 5er-Reihe, der BMW 2er-Serie Gran Coupe, der BMW X1, X3, X4, X5 und X7 sowie der Mini Countryman.
Woher kommen die Komponenten für das BMW-Werk Chennai?
Bei einer Gesamtmontagezeit von zwei bis drei Tagen werden am Standort derzeit täglich rund 72 Fahrzeuge fertiggestellt. Dabei spielt die lokale Beschaffung eine große Rolle: „Rund 50 Prozent des Fahrzeugwertes werden durch lokal gefertigte Komponenten abgedeckt“, berichtet Dose. Durch die Vielzahl der in Indien ansässigen OEMs habe sich auch ein stabiles Lieferantennetzwerk im Land gebildet, so der Werkleiter weiter. Während die Karosserien von einem nördlichen Lager aus an die Produktionslinie geliefert werden, kommen weitere Teile aus dem Kleinteilelager im Süden des Geländes. „Auf diesem Weg füttern wir die Montage von beiden Seiten und optimieren so die Materialzufuhr für die Produktionslinie“, erläutert Dose dieses Vorgehen.
Drei Zählpunkte markieren die wichtigsten Meilensteine der einzelnen Fahrzeuge im Produktionsablauf: Vergabe der Gestellnummer, erster Motorstart und Übergabe in den Vertrieb. Um Letztere so reibungslos wie möglich zu gestalten, erhielt der Standort im Rahmen einer Erweiterung im Jahr 2012 entsprechend der Lagerfertigungsstrategie ein eigenes Vehicle Distribution Center. Nachdem das Fahrzeug fertiggestellt wurde, wird es auf der hauseigenen Teststrecke geprüft. Dazu gehören unter anderem eine Fahrt über die Rüttelstrecke und eine intensive Beregnung, um garantieren zu können, dass das Fahrzeug wasserdicht ist.
„Wir arbeiten nach dem Motto: Lean Before Digital"
Tiefergehenden Qualitätskontrollen müssen sich aufgrund eines verpflichtenden Prozentsatzes rund 130 Autos monatlich in den Produktaudits stellen. Hierbei kommt ein Score-System zum Einsatz, das die Fahrzeuge auf Qualität, Funktionalität und Statik testet. „Ich kann so viel verraten: Trotz unserer hohen Komplexität durch die verschiedenen Modelle sind wir im weltweiten Vergleich definitiv vorn mit dabei, was die Qualität unserer Produkte angeht“, freut sich der Produktionschef. Ein gravierender Unterschied zu den volumenstärkeren Werken der BMW Group liegt im Thema Automatisierung. Während andere Standorte voller Stolz Automatisierungsquoten von 90 Prozent oder mehr präsentieren, legt man in Chennai viel Wert auf mechanische Tätigkeiten. „Wir arbeiten hier nach dem Motto: Lean Before Digital. Denn bevor ich den Prozess nicht vollständig verstanden habe, brauche ich gar nicht anfangen, an Digitalisierung zu denken“, betont der Werkleiter.
Gleichzeitig eigne sich der Standort trotz dieses Ansatzes sehr gut für künftige digitale Standardisierungen sowie Automatisierungsprojekte, da durch das geringe Produktionsvolumen auch eher niedrige Automatisierungskosten anfallen würden. „Ich kann viel Geld in umfassende Automatisierung investieren, aber das nimmt mir auch ein großes Stück meiner Flexibilität. Wir setzen daher eher auf kompetente Mitarbeiter, denn die muss man nicht aufwendig umprogrammieren“, lacht Dose.
Manuelle statt digitale Prozessoptimierung bei BMW in Indien
Im Rahmen der sogenannten Process Confirmation gehen Mitarbeiter daher alle Arbeitsschritte einzeln ab, um Verbesserungspotenziale aufzudecken. Bei Abweichungen von der ursprünglichen Arbeitsanleitung prüft das Team anschließend, ob die Herangehensweise des Beschäftigten möglicherweise geeigneter ist und in Optimierungsprozesse eingebunden werden sollte. „Wichtig ist, dass man immer an der Produktivität arbeitet und die Menschen im Kopf fit hält“ begründet Dose, der großen Wert auf eine gemeinsame Lösungsfindung legt – die manuelle Prozessprüfung. Sein Fokus läge dabei nicht auf eventuell verfehlten Kennzahlen von gestern, sondern auf einer optimalen Aufstellung für morgen, nächste Woche oder nächstes Jahr. Jeden Tag ein bisschen besser zu werden, sei das übergeordnete Ziel seines Teams.
Auch bei der Planung und Umsetzung dieser stückweisen Verbesserung setzt BMW in Chennai nicht auf Technologien wie etwa den digitalen Zwilling. Neue Arbeitsplätze und Prozesse werden per Kartonmodellage im Maßstab 1:1 aufgebaut und überprüft, um größtmögliche Nähe zur Praxis zu behalten. Dennoch soll das Thema IT im Werk Chennai in Zukunft tatkräftige Unterstützung aus BMWs neuem Joint Venture mit Tata Technologies erhalten. Die indischen Tech-Talente des Gemeinschaftsunternehmens sollen eng mit den Beschäftigten der Produktion in Chennai zusammenarbeiten. „Für uns bedeutet das, den neuen Kollegen im IT-Bereich die Freude an unseren Produkten vermitteln zu dürfen. Es macht definitiv etwas mit einem Menschen, wenn man unsere Produkte sieht, mit ihnen in Berührung kommt und an ihnen arbeitet“, erklärt Dose im exklusiven Interview mit der Automobil Produktion. „Wenn wir diese Begeisterung in den IT-Bereich transportieren können, schaffen wir eine starke Verbindung zu unseren Fahrzeugen.“