Gründer Günter Schuh betrachtet die e.Go-Produktion als Beispiel für eine Microfactory

Gründer Günter Schuh betrachtet die e.Go-Produktion als Beispiel für eine Microfactory. (Bild: Next.e.GO Mobile)

Fabriken, die nur die Fläche einer Lagerhalle haben, nicht die von zig Fußballfeldern. Fabriken, die keine Fließbänder haben, sondern aus hochautomatisierten Zellen bestehen, die über fahrerlose Transportsysteme miteinander verbunden sind. Fabriken, die hochflexibel produzieren, nicht im starren Takt à la Henry Ford. Fabriken, die als Microfactories bezeichnet werden – und über die die Meinungen in der Automobilwelt durchaus auseinandergehen.

Zum Beispiel verweist ein Vertreter des Verbands der Automobilindustrie darauf, dass solche Fabrikkonzepte nicht geeignet sind für die Anforderungen einer Massenproduktion. Günther Schuh sieht das anders, wie er im Rahmen des automotive production summit 2021 darlegte: „Wir sind es gewohnt, dass die Automobilindustrie aus Überkapazität und Überproduktion besteht und so kapitalintensiv ist, dass sie uns zwingt, die Entwicklungszyklen den Investitionsausgaben folgend anzusetzen.“ Das sei nicht gut, was nicht zuletzt die Coronapandemie zeige. Schuh ist Professor für Produktionssystematik an der RWTH Aachen sowie der Gründer und ehemalige Geschäftsführer des Elektrofahrzeugherstellers e.Go Mobile, der heute unter dem Namen Next e.GO Mobile firmiert.

Blockbuster-Fahrzeuge werden die Ausnahme

Schuh sieht drei Gründe, warum die Automobilindustrie in der Produktion umdenken muss: „Die Zahl der Blockbuster-Fahrzeuge wird sinken. Nur noch zehn bis 20 Prozent erreichen diesen Status, der große Rest wird mit deutlich kleineren Stückzahlen im Peak, in der Kammlinie und über die Lebenszeit auskommen müssen.“ Seine Einschätzung könne falsch sein, schiebt er noch schnell nach – es wirkt wie Understatement.

Die beiden anderen Gründe, die in Schuhs Augen für ein Umdenken sprechen, sind die länger werdenden Lebenszyklen der Fahrzeuge: zum einen durch Updates, wie man sie aus der Handywelt kennt, zum anderen durch neue Antriebskonzepte und die damit einhergehende Chance, dass Fahrzeuge einen viel kleineren ökologischen Fußabdruck bekommen. „Das Auto der Zukunft lebt 50 Jahre oder länger, denn die elektrische Maschine ist unkaputtbar.“ Wenn man ein Fahrzeug daran anpasse, „dann kommt man zu ganz anderen Fahrzeugstrukturen, und das eröffnet die Möglichkeit von Microfactories“, sagt Schuh. Das bedeutet in seinen Augen den Abschied von der heutigen Architektur der selbsttragenden Karosserie, denn „großer Werkzeugbau, Rohbau, Lackierstraße – das geht nicht mit Microfactories“.

Es überrascht nicht, dass Schuh die e.Go-Produktion als Beispiel für eine Microfactory betrachtet. Die Modelle haben eine Aluminiumrahmenstruktur, mit der sie eine hohe Eigensteifigkeit erreichen. Das Exterieur, gefertigt aus einem Thermoplast, wird direkt am Rahmen montiert. Beide Maßnahmen reduzieren die Werkzeugkosten drastisch. Eine nachträgliche Lackierung ist ebenfalls unnötig.

Arrival lebt die Microfactory

Auch das britische Startup Arrival hat sich dem Konzept der Microfactory verschrieben. Eine erste Fabrik ist in der Nähe von London entstanden, dort werden vollelektrische Lieferwagen produziert. Eine zweite Fabrik in South Carolina fertigt vollelektrische Busse. Die Microfactory in den USA erforderte eine Investition von nur 46 Millionen US-Dollar. Zum Vergleich: Allein die Umrüstung von General Motors Fabrik in Spring Hill, Tennessee, auf eine E-Fahrzeugfertigung verschlingt zwei Milliarden US-Dollar. Laut Arrival-CEO Michael Abelson sind die beiden Fabriken seines Unternehmens im Zweischichtbetrieb auf Jahreskapazitäten von 1.000 Bussen beziehungsweise 10.000 Lieferwagen ausgelegt.

Auch Arrival setzt auf neue Konzepte beim Design der Fahrzeuge. Verbundwerkstoffe statt Stahl, lautet die Devise., Kleben oder mechanische Verbindungen statt Schweißen. Durch die flexible Produktion, an die das Design der Fahrzeuge in einem sehr frühen Stadium angepasst wird, lassen sich kundenspezifische Anforderungen berücksichtigen, wie sie im Nutzfahrzeugbereich gängig sind, etwa bei der Größe der Batterie oder bei der Art und Anzahl der Türen.

Anfang 2020 haben Hyundai und Kia mit Arrival eine strategische Partnerschaft zur Entwicklung von E-Nutzfahrzeugen geschlossen, vor allem für den europäischen Markt. Hyundai schießt umgerechnet 80 Millionen Euro zu, Kia 20 Millionen. Kurz darauf gab Arrival bekannt, dass das Startup für den Paketdienstleister UPS in der Zeit bis 2024 über 10.000 Fahrzeuge fertigen wird. Für die Lieferung weiterer 10.000 Fahrzeuge gibt es eine Option. Mit der Vereinbarung einher geht eine Minderheitsbeteiligung von UPS Ventures an Arrival.

Das US-Startup Local Motors war ein weiteres Unternehmen, das Microfactories für die Produktion nutzte. Unter anderem fertigte Local Motors Pods, autonome Shuttles. Anfang 2022 war jedoch das Geld alle, das Unternehmen stellte seinen Betrieb ein. Auch E.Go Mobile musste 2020 Insolvenz anmelden, konnte aber durch einen neuen Investor gerettet werden. Kritiker könnten einwerfen, dass angesichts solcher Entwicklungen noch keiner bewiesen hat, dass Microfactories dauerhaft wirtschaftlich arbeiten. Doch das wäre etwas zu kurz gegriffen, denn Schuld an den Zahlungsschwierigkeiten war wohl in beiden Fällen nicht die Produktion.

Rasches Reagieren auf Nachfrageschwankungen

Die indische Technologieberatungsfirma LTI weist darauf hin, dass Microfactories eine Antwort auf entscheidende Anforderungen der Automobilproduktion geben können: anpassbare Produkte, schnelle Innovationen mit anpassungsfähigen Prozessen, smarte Produkte sowie Resilienz in der Lieferkette. „Im Schnitt benötigt ein OEM in einer Fließbandfertigung fünf bis sieben Jahre, um die Serienfertigung eines neuen Designs oder Produkts zu beginnen“, schreiben die Berater. Dagegen lasse sich durch Microfactories nachfragegesteuert agieren.

Es überrasche wenig, dass zunächst Startups für sich das Konzept der Microfactory entdeckt hätten, sagt Petra Foith-Förster, Geschäftsfeldleiterin Automotive am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA: „Durch die geringen Investitionskosten sinkt die Einstiegshürde in die Elektromobilität drastisch, gerade wenn es um spezifische Märkte geht wie die Letzte Meile oder Stadtautos, wo die Stückzahlen nicht so riesig sind.“ Wer auf der grünen Wiese beginne, habe zudem die Möglichkeit, die Dinge anders anzugehen. „Wenn ein etablierter OEM eine Lackierstraße und ein Presswerk hat, dann muss er sie auch auslasten. Entsprechend gestaltet er die Produkte so, dass die Technologien herkömmlich zum Einsatz kommen.“

Das Fließband ist chancenlos

Trotzdem ist das Microfactory-Konzept in den Augen der Maschinenbau-Ingenieurin auch für etablierte OEMs wichtig. „Ich glaube nicht an die Zukunft des Fließbands“, so Foith-Förster. Modularen Produktionssystemen gehöre die Zukunft, weil sie viel mehr Varianten fertigen könnten als die Linie. Zudem müsse die künftige Automobilproduktion besser skalierbar werden.

„Das haben die Hersteller ja auch erkannt, etwa Audi mit der modularen Montage in Györ und Ingolstadt, Mercedes-Benz mit der Factory 56 in Sindelfingen, Porsche mit dem Aufbrechen starrer Verkettungen in der Taycan-Produktion oder Daimler Trucks in der Konzeption der neu entstehenden Fabrik in Peking.“ Zwar ließen sich in Bestandsfabriken vorhandene Linien aus wirtschaftlichen Gründen nicht immer voll umgestalten, doch in Vormontagen und in Teilabschnitten könne man flexibler agieren, die Linie verlassen und fahrerlose Transportsysteme nutzen. „So entstehen frei anfahrbare Prozessmodule, die hohe Automatisierung mit Skalierbarkeit verbinden“, sagt Foith-Förster.

Das IPA wird demnächst im Auftrag der Acatech eine Expertise zur Umsetzung von cyber-physischen Matrixproduktionssystemen veröffentlichen, die es zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU erstellt hat. Darin geht es um die Frage, wie weit in verschiedenen Branchen inzwischen modulare Systeme verbreitet sind. „In der Automobil- und Elektronikindustrie sowie bei den Herstellern von Elektrowerkzeugen hat der Ansatz der Matrixproduktion bereits einen hohen Reifegrad erreicht“, resümiert Foith-Förster. „Besonders hoch ist er aber in der Halbleiterbranche.“ Nun lasse sich dieser Industriezweig nicht eins zu eins mit der Automobilindustrie vergleichen, „doch ein Vergleich der Halbleiterfertigung mit der Zerspanung oder mit dem Rohbau passt schon eher – und kann Impulse geben“.

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