
Arno Güllering, COO bei Dräxlmaier, berichtet auf dem Automobil Produktion Kongress von einer Produktionsstrategie, die man beim Zulieferer länderübergreifend organisiert hat. (Bild: Marko Priske)
Man stelle sich eine Insellandschaft vor – ein positiv belegtes Bild. Mit ökonomischem Auge mag ein Insel-Bild bei den in Unternehmen für Produktion und Logistik Verantwortlichen jedoch eher Warnsignale auslösen. Der heute geforderte Überblick, von der Lieferkette über Fertigungsprozesse bis hin zum fertigen Produkt könne mit sogenannten Insellösungen oder Silos nicht oder nicht mehr gelingen, wenn zugleich mit hohen Stückzahlen und Individualisierungsgraden nachhaltig gefertigt werden soll, hört man fast unisono von den Verantwortlichen. „Digitalisierung in der Produktion darf kein zentralistisch gesteuertes Konzept aus dem Headquarter mehr sein. Was heute zählt, ist eine dezentrale, mitarbeitergetriebene Innovationskultur, die weltweit vernetzt, lernfähig und nah an den Prozessen agiert“, sagte Arno Güllering auf dem Automobil Produktion Kongress 2025 in München.
Güllering ist Chief Operations Officer beim Zulieferer Dräxlmaier und weiß sehr gut um die Herausforderungen des Handlings in Produktion und Logistik. Das ursprünglich für Interieur-Komponenten bekannte Unternehmen ist längst auch zu einem Global Player für Batteriesysteme und Kabelsätze des Bordnetzes avanciert. Bei Letzteren spricht man nicht nur von zahlreichen Varianten, sondern von noch mehr individuellen Bordnetzsystemen. Jedes neue Fahrzeug auf der Straße habe einen eigenen, spezifischen Kabelsatz, was mit großen logistischen Anstrengungen einhergehe, sagt Güllering, der diese Varianz, wie auch die aktuellen Markt- und geopolitischen Rahmenbedingungen, in knappe Worte fasst: „Wir leben in herausfordernden Zeiten – und deshalb brauchen wir die Digitalisierung.“
Digitalisierung bedeutet die Abkehr von Insellösungen
Der COO kann von einer Produktionsstrategie berichten, die man beim Zulieferer länderübergreifend organisiert hat. Ein Großteil der Innovationskraft liegt dem Operations-Experten zufolge in einem umfassenden und ganzheitlichen Digitalisierungsprogramm. Dräxlmaier fertigt heute individuelle Kabelsätze innerhalb von nur wenigen Minuten. Dazu trägt eine Strategie bei, die alle Unternehmensbereiche abdeckt, vom Sales bis hin zum Procurement, inklusive 99 Teilmodulen. Aufbauend auf einem Corporate Programm hat man beim Zulieferer die sogenannte Digital Operations Initiative entwickelt. Sie basiert auf einem Reifegradmodell – das von der reinen Konnektivität über das Monitoring bis hin zur autonomen Automation reicht. Seit 2016 setze man auf OPC-UA-Standards zur Maschinenvernetzung, was nicht nur für die Datenqualität, sondern auch für die Cybersicherheit essenziell sei, so Güllering. Bereits 2019 habe man semantische Datenkonsistenz erreicht, was einen Meilenstein bedeute, um Daten sinnvoll speichern und auswerten zu können. Das Thema Digitalisierung reicht im Unternehmen heute vom Vertrieb über Planung und Einkauf bis zur Fertigung und Instandhaltung. Güllering spricht mit Blick auf die Digitalisierung auch von einem Kulturwandel. Es gehe nicht mehr allein um Tools, sondern darum, wie 70.000 Menschen in 60 Werken weltweit gemeinsam digitale Exzellenz entwickeln können. Genau diese Veränderung sei das wichtigste Projekt. Dieses treibe man voran. Das Ziel ist beim Zulieferer klar formuliert: Fünf bis sieben Prozent Effizienzsteigerung will man durch digitale Tools pro Jahr erreichen. Dabei diene Digitalisierung nicht als Selbstzweck, sondern als Weg zu höherer Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz und Exzellenz.
Digitalisierung sei früher ein zentrales IT-Thema gewesen, so der COO. Heute hingegen setze man auf dezentrale Initiativen aus den Werken. „Innovation muss aus den Standorten zum Headquarter und zurückfließen“ betont Güllering. Ziel sei ein durchgängiges System, das ERP, HR, Finance und Supply Chain integriere – unterstützt durch künstliche Intelligenz, Machine Learning und eine starke Daten- und Compliance-Basis. KI sei freilich ein Teil, aber nicht zwangsweise eine Lösung um jeden Preis, so der COO. Im Unternehmen unterscheide man zwischen klassischer KI und Generativer KI – für beide Implementierungen habe man eine Roadmap. Im Bereich Generative AI etwa nutze man unter anderem Microsoft Copilot für die Entwicklung eines neuen Maintenance-Tools, das das bisherige Instandhaltungs-Werkordersystem ersetzen soll. Dem COO zufolge kann es Historien, Ersatzteile wie auch Stillstände anzeigen und konkrete Maßnahmen vorschlagen. Noch befinde es sich im Pilotstadium, erweise sich aber als vielversprechend.
Digitalisierung heißt auch Ökonomie meets Ökologie
Vielversprechende, am besten früh real greifende Vorteile sind die Ergebnisse, die man sich ganz allgemein von der Digitalisierung verspricht. Neben ökonomischen seien es vor allem ökologische Vorteile, die das Thema so bedeutend machen, sagt Sara Gielen, die bei Mercedes-Benz das Stammwerk in Sindelfingen leitet. Teamgeist, digitale Tools wie auch ein ermutigender Führungsansatz zählen für sie zu den wichtigen Instrumenten auf dieser Reise. Die Werkleiterin soll nichts weniger als Innovation und Nachhaltigkeit mit der gewachsenen Identität und 110 Jahre währenden Tradition an dem Mercedes-Standort, an dem das Luxussegment der Marke entsteht, in Einklang bringen. Gielen weiß dabei gut um den Anspruch an die Fertigung. Zu den Zielen zählt heute gerade auch Nachhaltigkeit. Enorme Energiepreise sind dabei das große Thema und Treiber.
Am großen württembergischen Standort spielt Nachhaltigkeit eine gewichtige Rolle – nicht nur als ökologisches Ideal, sondern mit Blick auf den konkreten ökonomischen Mehrwert, sagt Gielen. „Durch den schrittweisen Ersatz fossiler Energien durch erneuerbare Quellen steigern wir unsere Energieeffizienz und machen uns zugleich unabhängiger von volatilen Energiepreisen“, erläutert sie. Mit dem gezielten Ausbau erneuerbarer Energien am Standort erhöhe man die eigene Resilienz. Abfallvermeidung und Kreislaufführung zählen ihr zufolge ebenso zum Verständnis einer zukunftsfähigen Produktion, wie beispielsweise die ökonomischen Parameter. Ein Meilenstein des Standorts ist die Factory 56. Diese stehe für die Vision einer smarten, zukunftsorientierten Fahrzeugproduktion. 2020 eröffnet und mit rund 730 Millionen Euro ausgestattet, soll sie moderne Technologien mit maximaler Flexibilität einen. Zwei sogenannte Tech Lines ermöglichen eine agile Anpassung der Montageprozesse. 400 fahrerlose Transportsysteme tragen heute zur Just-in-Time-Bereitstellung aller Bauteile bei. Technologisch setzt man beim OEM dazu auf das MO360-System, das in Sindelfingen seinen Ursprung hat. Dieses digitale System bündelt alle relevanten Produktionsdaten auf einer Plattform – mit einheitlicher Bedienoberfläche, was es auch für Nicht-Expertinnen und -Experten verständlich mache.
Im April hat man bei Mercedes-Benz dann den Spatenstich für ein nächstes Großprojekt gesetzt: eine hochmoderne, nachhaltige Lackiererei, mit einem signifikanten Investitionsvolumen, wie es heißt. „Auch hier setzen wir auf Digitalisierung, Industrie-4.0-Technologien und konsequente Nachhaltigkeit“, so Gielen. Der Strom stamme zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen, Gielen nach verfügt es über ein 20.000 Quadratmeter großes Solardach, intelligente Wärmenetze und eine energieeffiziente Gebäudehülle. Alles möglich mit Hilfe von kluger Digitalisierung. Ohne ein starkes Team jedoch gelinge dies nicht, so die Werkleiterin. Um mit dem besten Team arbeiten zu können, brauche es Offenheit für Wandel und den Mut zum Pioniergeist – nicht nur im Produkt, sondern auch im Produktionsprozess. Jeden Tag müsse man neu bewerten, ob man noch auf dem richtigen Weg sei. Manchmal brauche es daher Mut, bestehende Strukturen zu hinterfragen und Menschen die Angst vor dem Neuen zu nehmen. „Aber genau das ist unser Auftrag: Effizienter werden, besser werden – gemeinsam.“
Auf den Grad der Automatisierung kommt es an
Der Mensch im Zentrum der Herausforderungen war auch für Michael Nikolaides von BMW ein wichtiger Aspekt mit Blick auf die Digitalisierung beim Automobilhersteller. Auf dem Automobil Produktion Kongress hob er hervor, wie BMW Digitalisierung, Robotik und intelligente Automatisierung einsetzt, um sich speziell auf die Einführung der Neuen Klasse vorzubereiten und globale Herausforderungen zu meistern. Schlüsselkonzepte dafür sind die Virtualisierung der Produktionssysteme, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Bereichen wie der Qualitätskontrolle sowie die Automatisierung der Intralogistik durch intelligente Roboter, wobei immer der Mensch im Zentrum bleibe, so der Head of Production Network and Logistics bei der BMW Group.
Speziell das BMW-Werk München stehe sinnbildlich für die derzeitige Situation im gesamten Unternehmen, sagt Nikolaides. Den Weg dafür nenne man „Performing while transforming“ – also Leistung erbringen, während man sich gleichzeitig transformiert. Das Konzept der BMW iFACTORY biete die Antwort auf die Frage, wie Produktion und Logistik zukunftsfähig gemacht werden können. Ein Schlüssel zur Bewältigung all dieser Veränderungen sei die Digitalisierung. Diese erfolge in drei Dimensionen: Mit Virtualisierung, mit deren Hilfe sich Abläufe simulieren, testen und optimieren lassen, noch bevor sie in der realen Welt implementiert werden. Das spare Zeit, Geld und erhöhe die Effizienz erheblich. Schon seit Jahren setze man zudem KI ein, wie zum Beispiel in den Quality Gates. „Weltweit gibt es hunderte Anwendungsfälle, bei denen KI die Qualitätssicherung übernimmt. Das bringt uns Genauigkeit, Effizienz und Flexibilität“, erläutert Nikolaides diese zweite Dimension der iFactory. Last not least brauche es den richtigen Grad an Automatisierung. Zwei Aspekte hebt der BMW-Experte dabei hervor: Die Intralogistik-Automatisierung und die eigene Robotik-Initiative. So würden heute unterschiedlichste Transportsysteme, gesteuert durch intelligente Algorithmen, zu einem reibungslosen Materialfluss beitragen. Vor einigen Jahren habe man die Firma idealworks gegründet. Sie befasst sich mit der Entwicklung autonomer, smarter Transportroboter (STR). Über 600 dieser Roboter sind bei BMW heute im Einsatz – komplett autonom, ohne vorherige Programmierung. Ergänzt werden sie durch autonome Gabelstapler und Routenzüge.
Bei aller Digitalisierung bleibt der Mensch im Zentrum
Trotz all der Automatisierungs-Initiativen stehe der Mensch im Zentrum, sagt Nikolaides. Heute führe ein Gabelstaplerfahrer womöglich kein Fahrzeug mehr –Mitarbeitende würden jedoch mit Begeisterung neue Rollen in Wartung, Steuerung und IT übernehmen. Robotik sei bei BMW nichts Neues. Schon im Jahr 1982 arbeiteten 400 Roboter in der Karosseriefertigung im Werk München. Heute seien es rund 1.200, und für die Neue Klasse werden es über 2.000, so Nikolaides.
Man nenne das den „Tanz der Roboter“. Beeindruckend sei es zu sehen, wie sie koordiniert miteinander arbeiten. Doch der eigentliche Gamechanger liege in einer Kombination aus Robotik mit Künstlicher Intelligenz. Erste Pilotprojekte habe man mit Boston Dynamics gestartet. So komme der hundeähnliche, autonom agierender Roboter „SpOTTO“ bereits im britischen Werk für spezifische Aufgaben zum Einsatz. Einen Schritt weiter gehen humanoide Roboter. Mit dem Projekt Optimus habe Tesla ein neues Zeitalter eingeläutet. Auch bei BMW teste man erste humanoide Roboter in Kooperation mit einem US-amerikanischen Startup im Werk Spartanburg. Diese arbeiten im Karosseriebau und setzen auf kooperative KI. „Das Potenzial ist enorm“, sagt Nikolaides, man stehe jedoch noch am Anfang.
Automobil Produktion Kongress 2025

Am 15. Mai 2025 treffen sich auf dem Automobil Produktion Kongress in München wieder hochrangige Fach- und Führungskräfte, um über die Automobilfertigung der Zukunft zu sprechen. Gemeinsam streben Hersteller, Zulieferer und Dienstleister eine smarte, flexible sowie nachhaltige Produktion mit transparenter Lieferkette an. Seien Sie dabei und profitieren Sie vom kollektiven Branchenwissen. 🎫 Jetzt Ticket sichern!
Wichtig sind Agilität und mehr Geschwindigkeit
Als gemeinsamer Nenner des Automobil Produktion Kongresses darf das Motto gelten: Die Qualität der Daten ist entscheidend. Wie zügig nun nächste Anwendungen bis hin zu weiteren Einsätzen von KI in den Fertigungen implementiert werden, sei ein eher individuelles Thema. Für den Experten digitaler Fabrikprozesse, Professor Frank Mantwill von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, ist das nächste große Ding das Verständnis und die Rolle der Digitalisierung in der Produktion.
In einer Panel-Runde mit Arno Güllering von Dräxlmaier betonte der Leiter der Professur für Maschinenelemente und Rechnergestützte Produktentwicklung (MRP), wie wichtig das Erschaffen von Modellen und datengetriebene Prozesse in Produktion und Engineering für das Lernen sind. Man sei nun in einer Phase, in der man zwar gute Beispiele sehen könne, wie etwa der Einsatz von AGVs und die zahlreichen AI-Projekte, aber diese würden noch nicht miteinander harmonieren. Zudem stecke Vieles noch in den Kinderschuhen. Dräxlmaier-COO Arno Güllering ergänzte und mahnte einen entsprechenden Mindset an. Nur Workshops in den Unternehmen anzubieten, werde dem Thema nicht gerecht. Er spricht von „think big!“. Dazu zähle, dass das Management den Themen Raum und Zeit bieten müsse, Zögern sei keine Alternative. Und ein Missverständnis, so der COO, müsse man überdies ausräumen: Smart Factory bedeute nicht automatisch einen schnellen Return-on-Invest.
Von der Notwendigkeit des Tempos bei der Implementierung digitaler Instrumente zeigt sich auch Bilyana Stern, Werkleiterin bei Opel in Kaiserslautern, überzeugt. Sie beschrieb in München, dass man heutzutage die gesamten Stufen in den Prozessen, bis hinein in Details, simultan erledigen müsse, ansonsten sei man verloren. Die dafür erforderliche Geschwindigkeit bedeute gleichzeitig offen zu sein für Experimente wie auch für Fehler. Und freilich dürfe der finanzielle Impact nicht zu groß ausfallen. Die Werkleiterin betonte zudem die Wichtigkeit von Vertrauen und Glaubwürdigkeit: Man müsse dem, was man tut, einen Spirit einhauchen und keine unerreichbaren Ziele vorgeben. In München hob sie die Wichtigkeit des Vertrauens ins eigene Team hervor. Andernfalls verwalte man nur, sei aber keine echte Führung.