„Wir beschleunigen den Übergang zur Elektrifizierung“
Astemo verfolgt eine klar definierte ESG-Strategie: CO2-Reduktionsziele, streng regulierte Lieferketten sowie Technologien wie seltene-Erden-freie Motoren prägen den Anspruch. Europachef Doug Bowling ordnet im Interview ein, welche Rolle Europa dabei spielt.
Doug Bowling, Head of Europe bei Astemo, treibt die technologische und organisatorische Weiterentwicklung des Zulieferers maßgeblich voran.
Astemo / Collage
Astemo zählt zu den Zulieferern, die ihr europäisches Profil derzeit spürbar schärfen. Neue Inverter-Produktionslinien, strengere ESG-Vorgaben, wachsender Bedarf an Leistungselektronik und eine sich neu sortierende Lieferkettenlandschaft – all das erhöht den Druck, technologische Weiterentwicklung und betriebliche Stabilität gleichzeitig sicherzustellen. Einer der zentralen Köpfe hinter dieser Entwicklung ist Head of Europe Doug Bowling, der seit über 30 Jahren im Hitachi-Konzern tätig ist und dort zahlreiche Schlüsselpositionen in der globalen Automobilsparte verantwortet hat. Bowling gestaltete unter anderem die Integration der Tier-1-Zulieferer Showa, Nissin und Keihin zu einer gemeinsamen Automotive-Organisation, harmonisierte Qualitätsstandards über Kontinente hinweg und leitete als COO in Amerika den Aufbau der ersten Hybrid-Elektrofahrzeugfertigung von Hitachi in den USA. Seine Transformationserfahrung reicht von globalen Effizienzprogrammen bis hin zur strategischen Neuordnung ganzer Produktions- und Beschaffungsstrukturen.
Im Gespräch erläutert Bowling, wie Astemo Europa künftig positionieren will: mit Investitionen in neue Inverterlinien in Bolton, einem ESG-Rahmenwerk, das Lieferketten enger an Nachhaltigkeitskriterien koppelt, sowie einem stärker datenbasierten Produktionsansatz, der Energieverbrauch, Materialeinsatz und Validierungsprozesse transparenter macht. Und er ordnet ein, welche Herausforderungen in den kommenden Jahren entscheidend werden – von strengeren CO2-Zielen über regionale Risikomanagementstrategien bis hin zur Frage, wie operative Exzellenz auch in einem zunehmend komplexen Umfeld verlässlich gewährleistet werden kann.
Herr Bowling, wie verankert Astemo Nachhaltigkeit und ESG
strukturell in der europäischen Unternehmensstrategie?
Astemo verankert Nachhaltigkeit und ESG in Europa strukturell,
indem wir alle regionalen Aktivitäten an unserer globalen Mission ausrichten:
zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen und die Lebensqualität durch
führende, hochentwickelte Mobilitätslösungen zu verbessern. Geleitet von
unserer Vision „Safety and Freedom for the world through mobility, onwards with
Astemo“ konzentrieren wir uns auf Technologien, die Mobilität sauberer,
sicherer und effizienter machen. Unsere Nachhaltigkeitsstrategie ist weltweit einheitlich und
basiert auf drei Säulen: der Realisierung einer dekarbonisierten Gesellschaft,
der Förderung von Ressourceneffizienz und dem Erreichen von Harmonie mit der
Natur. Wir sind vollständig auf die Ziele des Pariser Abkommens ausgerichtet, und in Europa übersetzt sich das in konkrete Programme, dedizierte Teams und
messbare Umwelt-KPIs. Bei Astemo Europe treiben spezialisierte Umwelt- und ESG-Teams die
Reduktion von CO2-Emissionen, Energieverbrauch und
Abfällen
voran und stellen gleichzeitig die vollständige Einhaltung neuer Anforderungen
wie der CSRD sicher. Alle europäischen Produktionsstandorte sind nach ISO 14001 zertifiziert und
verbessern kontinuierlich ihre Energieeffizienz, Abfallvermeidung und den Übergang
zu 100 Prozent erneuerbarem Strom.
Welche konkreten KPIs oder Zielpfade leiten Sie daraus für Ihre Standorte ab?
Unser KPI-Rahmenwerk umfasst jährliche CO2-Reduktionsziele, Verbesserungen der Energieeffizienz, eine
steigende Nutzung erneuerbarer Energien sowie Abfallreduktionskennzahlen. Jeder
Standort trägt über
lokale Aktionspläne
zu diesen Zielen bei. Ein Beispiel ist unser Werk in Bolton, UK – das
bereits zu 100 Prozent mit Grünstrom
versorgt wird: Die Installation von mehr als 2.000 Solarpaneelen und einer
Ladeinfrastruktur für
Elektrofahrzeuge trägt jährlich
zu erheblichen CO2-Einsparungen bei. Ab 2027 wird die
Produktion von Invertern der nächsten Generation in Bolton
europäischen OEMs dabei helfen, Scope-3-Emissionen zu reduzieren, indem die
Fertigung näher an die Absatzmärkte rückt.
Die Elektrifizierung gilt als Schlüssel zur Emissionsreduktion. Gleichzeitig steigt der Ressourcenbedarf für Elektronik, Invertertechnologien
und Leistungshalbleiter. Wie adressiert Astemo diese Zielkonflikte zwischen
Wachstum und Ressourcenschonung?
Astemo begegnet dem scheinbaren Konflikt
zwischen beschleunigter Elektrifizierung und steigendem Ressourcenbedarf mit
einer Doppelstrategie: der Fortführung unserer starken, etablierten
Technologien und einem entschiedenen, innovationsgetriebenen Wandel hin zu
nachhaltigeren Elektrifizierungslösungen. Meine Prioritäten sind klar – wir
bauen auf unserer starken Basis bei Verbrennungsmotoren und Fahrwerken auf und
beschleunigen gleichzeitig den Übergang zur Elektrifizierung. Europa spielt in diesem Ansatz eine zentrale
Rolle. Unsere Investition von 140 Millionen Pfund in neue EV-Inverter-Produktionslinien
in Bolton positioniert die Region als Eckpfeiler von Astemos globaler
Elektrifizierungs-Supply-Chain. Gleichzeitig ist Ressourcenschonung tief in
unserer Nachhaltigkeitsstrategie verankert. Wir fördern eine
ressourceneffiziente Gesellschaft, indem wir Recycling ausbauen, Emissionen und
Chemikalieneinsatz reduzieren sowie Wasser und andere zentrale Ressourcen
schonen. Ein Beispiel für
unser Gleichgewicht zwischen Wachstum und Ressourceneffizienz ist die
Entwicklung unseres neuen seltene-Erden-freien Motors. Durch die Ablösung
herkömmlicher Permanentmagnet-Motoren – die typischerweise auf knappe seltene
Erden angewiesen sind – mithilfe eines synchronreluktanzbasierten Systems reduzieren
wir Beschaffungsrisiken und Rohstoffabhängigkeiten erheblich. Der neue Motor
erreicht hohe Leistung ohne seltene Erden, verringert geopolitische
Abhängigkeiten und reduziert Energieverluste im gesamten BEV-Antriebssystem.
Wie beeinflussen ESG-Kriterien
Ihre Lieferantenauswahl und Beschaffungsstrategie in Europa – insbesondere vor
dem Hintergrund regionaler Lokalisierungsbestrebungen und geopolitischer
Risiken?
Astemos Beschaffungs- und Lieferantenstrategie in Europa wird
direkt durch unsere ESG-Prioritäten, regionale Lokalisierungsbestrebungen und
die Notwendigkeit geprägt, geopolitische sowie Lieferkettenrisiken
verantwortungsvoll zu managen. Europa ist für uns eine strategische Wachstumsregion
– deshalb stärken wir lokale Entwicklungs- und Fertigungskapazitäten und
starten neue Initiativen, wie die neuen Inverter-Produktionslinien in Bolton. Durch die Kombination lokaler europäischer Kompetenz mit einer tiefen
Integration in unser globales Netzwerk bauen wir widerstandsfähigere und
nachhaltigere Lieferketten auf – von Europa, für Europa und darüber hinaus. ESG-Kriterien sind in jeder Lieferantenauswahl verankert. Wir
arbeiten ausschließlich mit Partnern zusammen, die Menschenrechte achten,
verantwortungsvolle Materialbeschaffung sicherstellen und die sichere Lieferung
und Nutzung unserer Produkte gewährleisten. Dieses Bekenntnis ist vollständig
mit dem Astemo Group Code of Conduct abgestimmt, der klare Erwartungen an
ethisches Verhalten, Gesetzestreue, Achtung von Menschenrechten, Umweltschutz
sowie das Verbot von Kinder-, Zwangs- oder Menschenhandelsarbeit definiert. Der
Code verlangt zudem strikte Due-Diligence-Prüfungen für alle Geschäftspartner,
einschließlich Reputationsprüfungen, rechtlicher Compliance, finanzieller
Stabilität und Integritätsstandards. In Europa beschleunigen wir eine Regionalisierungsstrategie, die
Dual-Sourcing erweitert, Near-Shore-Lieferanten stärkt und Abhängigkeiten von
einzelnen Regionen reduziert. Dieser Ansatz unterstützt direkt unsere
Fähigkeit, geopolitische Risiken zu mindern und gleichzeitig Transparenz und
Rückverfolgbarkeit entlang der Wertschöpfungskette zu verbessern. In
Beschaffungsentscheidungen richten wir unseren Footprint an den Zielen des
EU-Green-Deal aus und integrieren Scope-1-, -2- und -3-Emissionskriterien in jede
Einkaufsentscheidung. Durch diese Kombination aus starker lokaler Basis, strenger
ESG-Governance und verantwortungsvoller Auswahl von Partnern stellt Astemo
sicher, dass unsere europäische Lieferkette sowohl nachhaltiges Wachstum als
auch langfristige Resilienz unterstützt.
In welchem Umfang setzt Astemo
bereits digitale Technologien ein, um Nachhaltigkeitsziele zu
operationalisieren?
Astemo führt digitale Technologien Schritt für Schritt ein, um
Nachhaltigkeitsziele operativ umzusetzen. In ganz Europa investieren wir in
durchgängige digitale Transparenz – durch den Einsatz von Advanced Analytics,
KI-gestütztem Risiko-Mapping und Echtzeit-Tracking, um Störungen früher zu
erkennen und effektiver zu mitigieren. In unseren Werken ist die Nutzung von Sensortechnologie derzeit der
am weitesten fortgeschrittene Bereich. Die Standorte erweitern ihre Fähigkeiten
zur Echtzeitüberwachung, um granularere Energie- und Prozessdaten zu erfassen
und so Abweichungen schneller zu erkennen und die Nachverfolgung von
Nachhaltigkeitskennzahlen zu verbessern. Wir schaffen zudem die Grundlage für anspruchsvollere digitale
Werkzeuge. Mehrere Werke haben lokale Pilotinitiativen für Predictive
Maintenance und Energiemanagement mithilfe von KI und Machine Learning
gestartet. In der Produktion konzentrieren wir uns derzeit auf umfassende
Datenerfassung als Voraussetzung für zukünftige Digital-Twin-Simulationen zur
Optimierung von Energie- und Ressourceneffizienz. Datenplattformen werden bereits in den operativen Bereichen zur
Analyse von Leistungsdaten genutzt, und zukünftige Initiativen werden zunehmend
ESG-bezogene Kennzahlen integrieren, wenn die digitale Reife weiter wächst.
Während wir die nächsten Schritte unserer digitalen Roadmap definieren, liegt
der Fokus darauf, KI-gestützte Use Cases zu skalieren und digitale Systeme
auszubauen, die Transparenz und Nachhaltigkeit entlang der gesamten
Wertschöpfungskette unterstützen.
In welchen Bereichen gehen die digitalen Anwendungen bei Astemo über die reine Produktions- und Energieoptimierung hinaus?
Über operative Daten und KI-Anwendungen hinaus setzt Astemo
digitale Technologien auch tief in seinen Test- und Validierungsprozessen ein.
In unserer Brake Business Unit nutzen wir beispielsweise fortschrittliche
Simulationsumgebungen und KI-gestützte Rechenleistung, um das Produktdesign
bereits in einer sehr frühen Phase zu optimieren. Materialverhalten, Geräusch-
und Vibrationscharakteristika sowie anspruchsvolle Einsatzbedingungen werden
digital modelliert – lange bevor physische Prototypen existieren. Wir nutzen außerdem digitale Validierungstools wie
Software-in-the-Loop (SIL) und Hardware-in-the-Loop (HIL), um die Integration
von mechanischen, Hardware- und Softwarekomponenten – auch unter
unterschiedlichen klimatischen Bedingungen – zu verifizieren. Diese Werkzeuge
beschleunigen Validierungszyklen erheblich und erhöhen die Genauigkeit. Unsere
Materiallabore setzen digitale Mikroskopie und rasterelektronenmikroskopische
Röntgenanalysen ein, um strukturelles Verhalten im Detail zu verstehen, während
Echtzeit-NVH-Simulationen und virtuelle Testumgebungen die Validierung auf
Systemebene weiter stärken.
Die Mobilitätsindustrie steht unter hohem Druck, glaubwürdige,
messbare Fortschritte in Richtung Nachhaltigkeit zu erzielen. Wo sehen Sie die
größten Herausforderungen in den kommenden drei bis fünf Jahren?
In den kommenden Jahren wird die Mobilitätsindustrie mit einer
Vielzahl gleichzeitiger Herausforderungen konfrontiert sein, die sowohl
Geschwindigkeit als auch Disziplin erfordern. Rascher technologischer Wandel,
verschärfte CO2- und ESG-Vorgaben sowie zunehmend
strikte Regeln der Kreislaufwirtschaft werden Unternehmen dazu verpflichten,
schneller zu innovieren und
gleichzeitig messbare Fortschritte nachzuweisen. Parallel dazu werden
geopolitische Spannungen, sich verändernde Handelspolitiken und
wechselnde Kundenerwartungen die Widerstandsfähigkeit globaler und regionaler
Lieferketten weiter auf die Probe stellen. In diesem Umfeld wird operative Exzellenz noch entscheidender.
Sicherheit, Qualität und Effizienz bleiben fundamental – weshalb wir in Europa
diese Bereiche durch mitarbeitergetriebene Sicherheitsinitiativen, strenge
ISO-basierte Qualitätsprozesse und – ganz aktuell – die Einführung einer
dedizierten Rolle Head of Operational Excellence stärken, um breit angelegte
Verbesserungen in unseren Betriebsabläufen voranzutreiben. Zusammengenommen
unterstreichen diese Elemente die Dimension der Herausforderung: Nachhaltigkeit
voranzutreiben und gleichzeitig kompromisslose Standards in Sicherheit,
Qualität und Performance aufrechtzuerhalten.