Noch näher ran an die Basis – so könnte das Motto des Automobil Kongresses 2024 auch lauten. Denn wo im Vorjahr noch die beiden Produktionsvorstände von Mercedes und Seat sprachen, erläutern ein Jahr später der Leiter der europäischen und südafrikanischen Produktion von Mercedes, Michael Bauer, und Jose Arreche, Werkleiter der Seat-Standorte Barcelona und Martorell, wie sie ihre Werke nach wie vor transformieren. Gerade Letzterer hält offenbar nichts von Schönrederei. "Produktioner können nie gewinnen. Entweder verlieren wir oder wir spielen unentschieden", sagt Arreche, der deutlich macht, wie gewaltig die Transformation des Produktionsnetzwerks ist. „Alles, was wir in den letzten 60 Jahren gemacht haben, müssen wir noch mal in Frage stellen“, so der Spanier.
Seine Keynote ist ein Paradebeispiel dafür, warum es sich lohnt, dem Kongress beizuwohnen. Denn fernab von glattgebügeltem Marketingsprech sagt Arreche, was er denkt. So gibt er offen zu, dass die Einhaltung von Sicherheitsstandards manchmal eine Bremse sind. „Seit Monaten kämpfen wir mit allen Systemen, weil wir nicht gewährleisten können, dass alle sicher sind“, sagt der Werkleiter. Trotz aller Offenheit merkt man ihm an, wie stolz er auf seine Mannschaft ist. Auch die Zusammenarbeit im VW-Konzern gefällt Arreche. Einmal pro Quartal trifft man sich und tauscht neue Ideen und Entwicklungen aus. Diese, so Arreche, werden dabei jedoch nicht nur vorgetragen. Ein jeder Standortverantwortlicher muss anschließend prüfen, ob die Idee auch bei ihm umsetzbar ist und wenn nicht, muss er dies auch begründen.
Mercedes will Produktion um 20 Prozent effizienter machen
Sowohl für Arreche, der erreichen will, dass alle Mitarbeiter der Werke digital denken, als auch für Michael Bauer stehen die Menschen noch immer im Zentrum der Transformation. Ähnlich wie der Spanier ist auch Bauer offen und gibt zu, dass es nicht immer ganz leicht ist, alle Mitarbeiter gleich gut vom Nutzen der Digitalisierung zu überzeugen. Dennoch probiert man es bei Mercedes. Unter anderem verfolgen die Stuttgarter das Ziel, regelmäßig die Bedürfnisse der Mitarbeiter zu sammeln und diese innerhalb von 14 Tagen umzusetzen. Eine andere Möglichkeit als die Digitalisierung sehen die Schwaben ohnehin nicht „Die Digitalisierung ist das wichtigste Vehikel, um in der Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben“, stellt Bauer klar. Die drei Haupteinflussfaktoren der Produktion fasst der Manager mit den Marktbedingungen, der Geopolitik und den Energiekosten zusammen.
Und natürlich darf auch das Überthema der aktuellen Zeit in Bauers Keynote nicht fehlen. „Künstliche Intelligenz ist ein weiterer Schritt, der uns hilft viele Prozesse in unserer Produktion neu zu denken", erklärt er und verkündet, dass der Automobilhersteller durch den Einsatz von KI bereits eine Energieeinsparung von 20 Prozent in der Lackiererei erzielen konnte. Eben jene 20 Prozent Effizienzsteigerung strebt Mercedes gar für die ganze Fahrzeugproduktion bis 2025 an. "Hier sitzen ja viele Produktionier, ich brauche Ihnen nicht zu erklären, welchen Stellenwert das hat", sagt Bauer ans Publikum in München gerichtet.
Mercedes hat sich vom 100 Prozent Elektropfad verabschiedet
Auf den Tag genau ein Jahr zuvor verdeutlichten die jeweiligen Produktionsvorstände der OEMs auf dem APK, wie wichtig die Digitalisierung für sie ist. Die Transformation der Produktion sei ohne die Digitalisierung nicht möglich, so Burzer . Das sah auch sein Amtskollege bei Seat so – Markus Haupt eröffnete den Kongress 2023. Die großen Herausforderungen beschäftigen beide Vorstände naturgemäß gleichermaßen. Doch während Mercedes-Benz 2023 noch voll auf die Elektromobilität setzte – mittlerweile hat sich das geändert – und dieses Ziel bis 2030 zu 100 Prozent erreichen wollte, fährt man bei Seat noch eine gemischte Strategie, wie Markus Haupt bereits im Interview mit Automobil Produktion verraten hatte. Zum Sinneswandel betont Bauer 2024 betont gelassen: „Wir sind in der Lage beides zu produzieren – ob elektrisch oder Verbrenner. Das ist die Ernte der Arbeit der Vergangenheit.“
Seat setzt auf drei Säulen zur Effizienzsteigerung
"Wir treffen Entscheidungen aufgrund von Daten und nicht aufgrund von Erfahrungen", sagt Markus Haupt. Die Digitalisierung ist für ihn ein Tool, um die Effizienz und die Qualität der Produkte zu erhöhen. Supply Chain Control Tower heißt das Projekt, das für weniger Störungen in Seats Lieferkette sorgen soll. "Das System führt selbst Analysen und schlägt uns mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Optimierungen unserer Lieferketten vor", erklärt Haupt. Man müsse den Informationsfluss so gestalten, dass alle Beteiligten Zugang haben. Aktuell liege man beim Onboarding der Zulieferer bei rund 90 Prozent. Tritt irgendwo ein Problem auf, schlägt ein Frühwarnsystem Alarm und die Produktion kann kurzfristig auf die neuen Umstände angepasst werden.
Die zweite Säule ist Predictive Maintenance. "Wir kommen aus einer Welt der Corrective Maintenance", gibt Haupt zu. Jetzt erhofft man sich bei Seat eine deutliche Optimierung der Ressourcen. Zumindest bei der Qualitätskontrolle wünscht sich der Produktionschef perspektivisch eine gänzlich autonome Fabrik. Seat will, dass die Maschinen künftig Korrekturvorschläge machen. Bezogen auf die gesamte Produktion ergänzt Haupt: „Mir fällt die Vorstellung einer komplett menschenfreien Fabrik schwer.“ Noch würden die manuellen Tätigkeiten nicht gänzlich wegfallen. Aber grundsätzlich arbeite der Mensch zukünftig an einem anderen Arbeitsplatz.
Mercedes kooperiert bei der Digitalisierung
Sowohl für Markus Haupt als auch für Jörg Burzer soll bei all der Rationalisierung und Effizienzsteigerung der Mensch trotzdem im Mittelpunkt bleiben. Das Thema Qualifizierung spielt bei beiden OEMs daher eine wichtige Rolle. Um die Transformation der Produktion erfolgreich zu gestalten, brauche es die Mitarbeiter, sind sich beide einig. Für Jörg Burzer ist ein weiterer Kernpunkt die Digitalisierung. Damit diese schnell voranschreitet, kooperieren die Stuttgarter mit Siemens für den Bereich Connectivity, mit Microsoft für das Thema Cloud und mit Nvidia für den Digital Twin.
Das Produktionsökosystem MO360 stammt jedoch aus der eigenen Schmiede. Im nächsten Schritt soll es mit dem künftigen Operating System MB.OS zusammenwachsen. 2025 wollen die Schwaben ihr eigenes Betriebssystem starten und auf die ganze Modellpalette ausrollen. Bezogen auf die Produktion heißt das für Burzer: „Wir wollen Produkt und Prozess zusammenbringen.“
Mercedes setzt auf eigene Windparks und Solaranlagen
Neben der Digitalisierung sprach Burzer auch über das Überthema Nachhaltigkeit. Um das eigene Ziel, bis 2039 CO2-neutral zu werden, erreichen zu können, werden eigene Windparks und "über eine Millionen Quadratmeter Photovoltaik-Anlagen" errichtet. Ein zusätzlicher Fokus liegt auf Burzers "Herzensthema" – dem Batterierecycling. In Kuppenheim entsteht bis Ende des Jahres die erste eigene Anlage dafür.
An Baustellen mangelt es freilich nicht. Dennoch bleibt der Fokus darauf, die "begehrenswertesten Fahrzeuge der Welt zu bauen", erhalten. In diesem Zuge erteilt Burzer einer breiter gefächerten Orientierung hin zu einem Mobilitätsdienstleister eine klare Absage. "Wir glauben an die individuelle Mobilität. Für uns ist klar, dass sie auch nach 2030 eine große Rolle spielen wird. Darauf, dieses Kundenbedürfnis zu befriedigen, zielen wir ab."