Stefan Fesser, Volvo

„Wir waren die Pioniere in Volvos Elektrifizierungsstrategie"

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Ein Mann mittleren Alters mit Brille, kurzen Haaren und Arbeitsjacke in Blau und Orange sitzt an einem Tisch und spricht mit einer nicht sichtbaren Gesprächspartnerin, die im Vordergrund nur von hinten zu sehen ist. Hinter ihm hängt ein großes Bild eines weißen Volvo-SUVs an der Wand. Der Mann gestikuliert mit den Händen und wirkt engagiert im Gespräch.
Im Interview spricht Stefan Fesser über die Transformation des Standorts zum Elektrowerk und den Hochlauf des EX30 in Rekordzeit.

Volvo-Werkleiter Stefan Fesser spricht im Interview über den Wandel in Gent: EX30-Hochlauf in Rekordzeit, smarte Logistik, KI-gestützte Prozesse und warum der Standort beim Thema Elektromobilität eine Vorreiterrolle einnimmt.

Stefan Fesser blickt auf eine mehr als 30-jährige Karriere in der Automobilindustrie zurück – geprägt von technischer Expertise, internationaler Führungserfahrung und strategischer Weitsicht. Der gebürtige Bremerhavener begann seine Laufbahn als Maschinenbauingenieur und stieg bei Opel 1995 als Qualitätsingenieur ein. Nach Stationen in verschiedenen Werken übernahm er 2011 die Geschäftsführung des Opel-Werks in Eisenach, ab 2014 zusätzlich die Leitung des britischen Vauxhall-Werks in Ellesmere Port und später auch des Standorts Luton.

Im Jahr 2018 übernahm Stefan Fesser die Leitung des traditionsreichen Volvo-Werks im belgischen Gent. Seither treibt er die Transformation des Standorts mit dem Ziel voran, ihn zur konzernweiten Vorzeigefabrik für Elektromobilität zu entwickeln. Unter seiner Führung entstand nicht nur eine eigene Batteriemontage, sondern auch die Grundlage für die Back-to-Back-Produktion von vollelektrischen und hybriden Fahrzeugen. Mit dem Hochlauf des EX30 geht der Standort den nächsten strategischen Schritt. Fesser, der Managementprogramme in Stanford und an der IESE Business School absolvierte, verbindet operative Exzellenz mit Transformationskraft – und versteht es, technologische Innovationen und nachhaltige Fertigung zu vereinen

Herr Fesser, Sie haben bereits verschiedene Positionen in der Automobilindustrie innegehabt. Was macht Ihre aktuelle Rolle bei Volvo in Gent besonders?

Ich bin im Jahr 2018 hierher gewechselt. Ich wurde damals gefragt, ob ich bei der Elektrifizierung des Werks mitwirken möchte. Das hat mich sofort angezogen, weil ich zu diesem Zeitpunkt fest davon überzeugt war, dass die Zukunft der Mobilität elektrisch sein wird. Volvo hatte schon damals eine klare Strategie formuliert: Wir gehen voll elektrisch. Das hat sehr gut zu meinem persönlichen Antrieb gepasst. Gent war das erste Werk im Konzern, in dem wir die Elektrifizierung umgesetzt haben, wir waren also die Pioniere. Wir haben ein Batteriewerk aufgebaut und das erste, zweite und jetzt das dritte vollelektrische Auto gebaut. Für mich war es eine Chance, ein gesamtes Werk zu transformieren und konsequent an der strategischen Ausrichtung zu arbeiten. In meinen früheren Rollen hatte ich kaum mit Elektrofahrzeugen zu tun, das ist jetzt definitiv anders.

Und was ist die wichtigste Lektion, die Sie aus früheren Rollen mitgebracht haben?

Ich bin ein starker Verfechter von Führung durch Werte, Teamarbeit und Zusammenarbeit. Gerade bei einem Standort mit rund 6.500 Mitarbeitenden ist das essenziell. Besonders wenn man neue Technologien einführt, muss man offen sein, neugierig bleiben und diese neuen Technologien auch wirklich in die Industrialisierung bringen. Es geht nicht nur darum, etwas zu erforschen, sondern ebenso darum, die gewonnenen Erkenntnisse nahtlos in den Produktionsalltag zu integrieren.

Seit April wird in Gent der EX30 gefertigt. Welche Meilensteine und Herausforderungen gab es beim Hochlauf der Produktion?

Die Entscheidung, den EX30 in Gent zu bauen, fiel im Herbst 2023. Normalerweise beträgt die Vorlaufzeit für solche Projekte drei Jahre. Wir haben uns entschieden, das in anderthalb Jahren zu realisieren. Warum? Weil wir nah am Markt und schnell lieferfähig sein wollten. Das war ein ambitioniertes Vorhaben und bedeutete für uns ein neues Tempo. 80 Prozent dieser Fahrzeuge werden in Europa verkauft und unser strategischer Grundsatz lautet: Wir bauen dort, wo wir verkaufen. Gent war die logische Wahl, weil wir hier bereits kleinere Plattformen produzieren: Wir haben den XC40 und jetzt den EX30. Das fügt sich gut ins Portfolio. Die größte Herausforderung war, die Geschwindigkeit der Umsetzung mit hoher Qualität zu verbinden.

Welche Investitionen wurden für die Integration des EX30 getätigt?

Insgesamt haben wir rund 200 Millionen Euro investiert, hauptsächlich in den Karosseriebau. Wir mussten unsere gesamte Ausrüstung anpassen, neue Anlagen wie eine Türlinie installieren und rund 600 Roboter anschaffen oder umrüsten. Zudem haben wir eine zweite Batterie-Montagehalle gebaut. Die erste war für den 40er, nun haben wir eine für den EX30. Auch die Lokalisierung der Teile war zentral: Über 50 Prozent der Teile stammen aus Europa, viele aus Deutschland und Belgien. Und natürlich haben wir massiv in die Qualifizierung unserer Mitarbeitenden investiert, mit Fokus auf neue Ausrüstung und Elektrifizierungskompetenz.

Wie hat das Team auf diese Veränderungen reagiert?

Der eigentliche Beginn unserer Reise in Richtung Elektromobilität erfolgte bereits 2018. Natürlich gab es anfangs etwas Skepsis. Heute steht das Team geschlossen hinter der Elektrifizierungsstrategie. Und wir sind generell offen dafür, neue Technologien voranzutreiben. Das Team ist sehr lernbereit, möchte Neues ausprobieren und ist offen für Veränderungen. Und genau das ist entscheidend: Man muss bereit sein, sich zu verändern, sonst kann man keine neuen Technologien einführen und bleibt am Ende nicht wettbewerbsfähig. Auch was das Alter im Team betrifft, sind wir gut aufgestellt. Wir hatten nie einen Einstellungsstopp, weshalb unsere Altersstruktur im Werk gut durchmischt ist. Und wir haben viele jüngere Leute im Team, die offen für neue Technologien sind und sogar fordern, dass wir digital und datenbasiert arbeiten. In Verbindung mit langjähriger Erfahrung der älteren Beschäftigten wird diese Innovationsfreude zu einem starken Treiber.

Wie qualifizieren Sie Ihre Mitarbeitenden für solche neuen Prozesse?

Für uns ist wichtig, dass Veränderungen nicht nur von oben kommen. Viele Ideen stammen von den Mitarbeitenden selbst. Wir haben unsere eigene Werk-Akademie aufgebaut, die Volvo Academy. Dort bilden wir Techniker im Haus aus, gezielt und praxisnah. Das schafft nicht nur Qualifikation, sondern auch Identifikation. Wir entwickeln unsere Fachkräfte selbst und bilden sie weiter. Das ist ein großer Vorteil, gerade bei der Einführung neuer Technologien.

Der EX30 wird auf der von Geely entwickelten SEA-Plattform gebaut. Würden Sie vor dem Hintergrund des zunehmenden Wettbewerbs aus China sagen, dass Volvo mit von der Nähe zum chinesischen Mutterkonzern entscheidend profitiert?

Ich denke, das Projekt EX30 ist ein gutes Beispiel dafür, wie gut die Kooperation innerhalb der Gruppe funktionieren kann, auch über Kontinente hinweg. Die Zusammenarbeit mit Geely war in diesem Fall sehr offen und partnerschaftlich. Wir teilen Technologien, Knowhow und entwickeln gemeinsam weiter. Gleichzeitig verfolgen wir eine klare Strategie: Wir wollen dort bauen, wo wir verkaufen. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht von der globalen Aufstellung profitieren. Wir produzieren auch in China und wir übernehmen Technologien von dort, etwa von Geely oder aus bestehenden Plattformen, und passen sie an unsere europäischen Anforderungen an. Dieser Technologietransfer ist für uns ein klarer Wettbewerbsvorteil. Es wäre aus unserer Sicht nachteilig, auf dieses Wissen nicht zurückzugreifen. Im Tagesgeschäft sind wir ein klar europäisch aufgestelltes Unternehmen – das ist unsere DNA. Industrialisierung und Fertigung geschehen hier. Es sind belgische Teams, die das Fahrzeug in die Serie bringen.

Schauen wir auf konkret auf die digitale Fertigung: Welche Rolle spielen Echtzeitdaten und Vernetzung in Gent?

Ein gutes Beispiel dafür, wie wir heute schneller zum Modellanlauf kommen, ist der Einsatz von Virtual Reality. Früher wurde eine Maschine physisch aufgebaut, erst danach wurden Probleme sichtbar. Heute bauen wir zunächst einen digitalen Zwilling, lassen ihn virtuell laufen und debuggen ihn, bevor überhaupt etwas real entsteht. So lassen sich Fehler frühzeitig erkennen und Zeit sparen. Das gilt auch für das virtuelle Training: Mithilfe von VR-Brillen können wir Bediener bereits schulen, bevor das Fahrzeug überhaupt produziert wird. Dafür brauchen wir große Datenmengen, um Maschinen und Arbeitsumfeld realitätsnah zu simulieren. Die digitale Inbetriebnahme ist mittlerweile ein fester Bestandteil unseres Produktionsanlaufs. Auch bei der Problemlösung arbeiten wir datenbasiert. Statt Papier und Bleistift nutzen wir heute Datenanalysen, um Muster zu erkennen und Ursachen gezielt zu vermeiden. Dieser Ansatz hat sich als äußerst wirksam erwiesen. Unser Ziel ist es, die digitalen Zwillinge im Vorfeld zu debuggen, also Fehlerquellen frühzeitig zu erkennen und zu beheben. Das führt zu erheblichen Zeitgewinnen.

Impressionen aus dem Volvo-Werk Gent:

Ein Mann in orange-blauer Volvo-Arbeitskleidung erklärt einer Besucherin ein Batteriemodul. Im Hintergrund zeigt ein Monitor eine technische Grafik des Batterieaufbaus. Beide Personen stehen in einem hellen Schulungsraum mit weißen Kacheln.
In Gent verfügt Volvo über eine eigene Batteriemontage. Für den EX30 wurde eine zweite Halle errichtet, in der speziell geschulte Mitarbeitende die Batteriemodule vor Ort montieren.
Blick auf das Volvo-Werk in Gent mit Windkraftanlagen im Hintergrund. Vor dem Werk sind zahlreiche geparkte Autos zu sehen. Links im Bild steht ein Schild mit dem Volvo-Logo, über dem Gebäude erheben sich mehrere Windräder unter grauem Himmel.
Der Volvo-Standort in Gent ist seit Anfang 2025 CO2-neutral und wird zum Teil durch angrenzende Windkraftanlagen mit Energie versorgt.
Ein gelb-schwarzer, vierbeiniger Roboterhund von Boston Dynamics steht in einer Industriehalle vor einem abgesperrten Bereich mit Maschinen und Kabeln. Der Roboter ist mit Kameras und Sensoren ausgestattet und dient zur Inspektion schwer zugänglicher Produktionsbereiche.
Roboterhund Spot ist mit Kameras und Sensoren ausgestattet und inspiziert schwer zugänglicher Produktionsbereiche auf Lecks jeglicher Art.
Ein schwarzes SUV-Fahrzeug durchläuft eine Fertigungsstation im Volvo-Werk Gent. Umgeben von rot-transparenten Vorhängen und Werksmitarbeitenden in orange-blauer Kleidung wird das Fahrzeug in einer hell beleuchteten Linie montiert.
Am Ende der Linie prüfen Werksmitarbeitende jedes Fahrzeug sorgfältig auf Qualität – unabhängig davon, ob es sich um einen Mild-Hybrid, Plug-in-Hybrid oder ein vollelektrisches Modell handelt.

Wo sehen Sie aktuell das größte Potenzial für datenbasierte Prozesse?

Besonders spannend ist für mich der Bereich Instandhaltung. Als ich vor 30 Jahren in der Automobilindustrie angefangen habe, wurden defekte Komponenten schlichtweg ersetzt, wenn sie ausfielen. Später kam die vorausschauende Instandhaltung, bei der man erkannte, wann ein Bauteil wahrscheinlich versagen würde, und entsprechend früh eingriff. Heute gehen wir noch einen Schritt weiter: Mithilfe umfangreicher Datenmengen betreiben wir präskriptive Instandhaltung. Das bedeutet, die Systeme zeigen uns nicht nur, wann ein Ausfall droht, sondern auch, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit es gar nicht erst dazu kommt. Diese Art der Datennutzung hilft uns, Antworten auf komplexe Fragen zu finden, die nicht offensichtlich sind. Dafür benötigen wir nicht nur mehr Daten, sondern auch den gezielten Einsatz von künstlicher Intelligenz. So gelingt es uns, auch sehr vielschichtige Zusammenhänge zu durchdringen. Das ganze könnte ein echter Gamechanger werden.

Welche KI-Use-Cases hat Gent bereits eingeführt?

Was gemeinhin unter KI läuft, ist bei uns oft maschinelles Lernen. Im Karosseriebau analysieren wir zum Beispiel Schweißprozesse anhand von Stromverläufen. Die Maschine lernt, welche Parameter gut sind, erkennt Abweichungen und gibt Empfehlungen. In der Lackiererei untersuchen wir ebenfalls datengetriebene Anwendungen. Auch visuelle Erkennungssysteme oder der Roboterhund arbeiten mit KI-basierten Elementen.

Automatisierung ist ebenfalls ein großes Thema. Welche Strategie verfolgen Sie speziell auch beim Thema humanoide Roboter?

Wir gehen Schritt für Schritt vor – immer mit Blick auf Sicherheit und Qualität. Aktuell setzen wir auf Cobots, die Hand in Hand mit Menschen arbeiten, etwa beim Abdichten von Dachhimmeln. Der Roboterhund Spot kommt in schwer zugänglichen Bereichen zum Einsatz, autonome Transportsysteme beliefern bereits zuverlässig unsere Linien. Was humanoide Roboter betrifft: Hier besteht noch Entwicklungsbedarf. Wir beobachten das Thema, aber flächendeckend sehe ich diese Roboter in den nächsten Jahren noch nicht in der Produktion.

Wie genau wählen Sie aus, in welche neuen Technologien investiert wird?

Unsere strategische Ausrichtung wird in unserem Entwicklungszentrum in Schweden festgelegt, also welche Technologien wir verfolgen und wie wir sie in unsere Prozesse überführen. So haben wir zum Beispiel die Einführung der AGVs (fahrerlose Transportsysteme, Anm. d. Red.) und den Einstieg in Robotik-Anwendungen von dort aus gesteuert. Wir analysieren sehr genau, was der Markt aktuell bietet und was eben noch nicht verfügbar ist. Parallel dazu arbeiten wir in Co-Partnerschaften mit Universitäten sowie mit unserem Entwicklungszentrum an eigenen Lösungen. Unsere Innovationspipeline speist sich also einerseits aus der strategischen Planung des Entwicklungszentrums, andererseits bringen auch unsere Mitarbeiter eigene Ideen ein. Wenn wir zum Beispiel ein visuelles Inspektionssystem aufbauen, dann ist das oft eine Eigenentwicklung. Das ist ein Zusammenspiel aus dem, was unsere Teams vor Ort an Verbesserungspotenzial erkennen, und dem, was der Markt hergibt. Ziel ist immer, daraus die bestmögliche Lösung zu formen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Gent ist als Elektro-Pionier ein bedeutsamer Standort im Produktionsnetzwerk von Volvo. Was sind die nächsten Schritte?

Aus meiner Sicht befinden wir uns derzeit in einer Übergangsphase. Aktuell laufen bei uns sowohl Plug-in-Hybride als auch vollelektrische Fahrzeuge über das Band. Als Unternehmen haben wir uns bewusst entschieden, diese Übergangsphase flexibel zu gestalten. Das heißt wir beobachten genau, wie sich der Markt aktuell entwickelt und orientieren uns daran. In manchen Märkten schreitet die Elektrifizierung sehr schnell voran, in anderen Ländern verläuft der Übergang langsamer. Wir stellen daher sicher, dass wir beide Fahrzeugtypen bereithalten, um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gleichzeitig ist unser langfristiges Ziel klar definiert: Wir wollen vollständig elektrisch werden. In der Unternehmensstrategie ist formuliert, dass wir bis 2030 einen Anteil von 90 bis 100 Prozent vollelektrischer Fahrzeuge erreichen wollen. Und ich bin überzeugt: Unser Werk wird auch künftig eines mit dem höchsten Anteil an vollelektrischen Fahrzeugen bleiben, weil wir früh damit begonnen haben und kontinuierlich neue Elektromodelle in unsere Linien integrieren.

Diese Übergangsphase wird auch in Ihren Produktionshallen sichtbar. Die unterschiedlichen Antriebe laufen auf einer Linie…

Genau das ist auch unsere Strategie, wir nennen das „Back-to-Back“-Produktion. Sie verschafft uns eine enorme Flexibilität. Das bedeutet, wir können den Mix auf der Linie gezielt steuern. Wir sprechen dabei von Mild-Hybriden – denn letztlich haben alle Fahrzeuge irgendeine Form von Batterie –, dann Plug-in-Hybride und schließlich vollelektrische Fahrzeuge. Der große Vorteil für uns ist, dass wir all diese Varianten direkt hintereinander auf derselben Linie fertigen können. Dadurch sind wir nicht gezwungen, große Chargen rein elektrischer oder rein hybrider Fahrzeuge zu produzieren. Stattdessen können wir flexibel und marktorientiert reagieren – Fahrzeug für Fahrzeug. Diese Fähigkeit zur durchmischten Produktion ist aus unserer Sicht eine unserer größten Stärken.

Und wie managen Sie die erhöhte Komplexität, die durch diese Strategie entsteht?

Die zentrale Herausforderung bei der Fertigung unterschiedlichster Fahrzeugmodelle auf ein und derselben Linie liegt darin, die enorme Variantenvielfalt beherrschbar zu machen – und genau dafür setzen wir auf eine durchgängige End-to-End-Planung und ein hochmodernes Logistik-Optimierungszentrum. Denn der Platz an der Linie ist naturgemäß begrenzt. Wir können dort nicht unbegrenzt Teile bereithalten, müssen aber gleichzeitig sicherstellen, dass jeder Mitarbeitende zur richtigen Zeit genau die Bauteile erhält, die für das jeweilige Modell benötigt werden, sei es ein Mild-Hybrid, ein Plug-in-Hybrid oder ein vollelektrisches Fahrzeug. Im Hafen von Gent haben wir daher Anfang des Jahres ein neues Logistikzentrum aufgebaut, das genau auf diese Anforderungen zugeschnitten ist. Dort bündeln wir sämtliche Materialströme aus See-, Schienen- und Straßentransporten und kommissionieren alle Teile exakt in der Reihenfolge, in der sie an der Linie verbaut werden.

Ein Mann mittleren Alters mit Brille, kurzem Haar und in orange-blauer Volvo-Arbeitskleidung sitzt auf einem grauen Sofa und blickt freundlich in die Kamera. Hinter ihm ist ein großes Foto eines weißen vollelektrischen Volvo-SUVs auf einer kurvigen Bergstraße zu sehen.
Seit 2018 prägt Stefan Fesser die Transformation des Werks in Gent – von der Einführung der Elektromobilität über den Aufbau der Batteriemontage bis hin zur digitalen Inbetriebnahme

Die Komplexität wird also in die Logistik ausgelagert…

Genau, man kann sich das wie einen Trichter vorstellen: Wir holen die große Komplexität aus der Lieferkette heraus und überführen sie in eine klar strukturierte, sequenzierte Bereitstellung. Ein Teil der Komponenten wird in exakt vorkonfigurierten Boxen direkt ins Fahrzeug eingebracht, andere sind als Kleinteile in griffbereiter Nähe der Linie verfügbar. So entsteht keine überladene Linienfassade, sondern eine kompakte, intelligente Materialversorgung. Die eigentliche Komplexität wird also nicht an der Linie selbst, sondern „upstream“ im Logistikzentrum beherrscht – mit hoher Präzision und Planungstiefe. Dieses System erlaubt es uns, verschiedene Modelle tatsächlich back-to-back zu fertigen, also unmittelbar hintereinander, ohne Umrüstungen oder Chargenbildung. Das verleiht uns maximale Flexibilität und sichert gleichzeitig eine hohe Produktivität. Entscheidend dafür ist nicht nur die Infrastruktur, sondern auch die strategische Standortwahl: Die hervorragende Anbindung an maritime und landseitige Transportwege macht Gent zu einem idealen Logistikdrehkreuz. So gelingt es uns, Variantenvielfalt nicht als Hemmnis, sondern als Wettbewerbsvorteil zu gestalten.

Welche weiteren Nachhaltigkeitsziele verfolgen Sie über E-Mobilität hinaus?

Im Werk Gent verfolgen wir eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie über alle Produktionsbereiche hinweg. Ein zentraler Meilenstein war die CO2-Neutralität des Standorts, die wir Anfang des Jahres erreicht haben. Seit 2018 konnten wir zudem den Energieverbrauch um 30 Prozent senken, bis 2030 sollen es 50 Prozent sein. Ein Beispiel: In der Lackiererei haben wir gasbetriebene Öfen auf elektrische Systeme umgestellt. Das spart nicht nur CO2, sondern erlaubt auch einen flexibleren, bedarfsorientierten Betrieb. Ergänzt wird das durch smarte Steuerungstechnik, die Anlagen automatisch reguliert. Die Lackiererei ist zudem ein Schwerpunkt bei der Wassereinsparung. Gent hat heute konzernweit den niedrigsten Wasserverbrauch pro Fahrzeug. Auch bei der Farbvielfalt setzen wir auf Effizienz: Statt über 200 Farben wie bei anderen Herstellern bieten wir gezielt nur zehn Varianten an. Das senkt Komplexität und Ressourcenverbrauch. Im Bereich Abfallwirtschaft streben wir bis 2030 „Zero Waste“ an. Seit 2018 konnten wir das Abfallaufkommen durch Wiederverwendung und Kreislaufwirtschaft bereits um rund 40 Prozent reduzieren. Auch regenerative Energie spielt eine Rolle. Unsere umliegenden Windkraftanlagen werden derzeit modernisiert und sollen künftig 40 bis 50 Prozent mehr Leistung. All diese Maßnahmen zeigen: Nachhaltigkeit ist bei uns kein abstraktes Ziel, sondern gelebte Realität.

Man könnte sagen: Wer heute produziert, muss die Zukunft voraussehen. Welche mittel- und langfristigen Entwicklungen sehen Sie für den Standort Gent?

Wenn wir auf die Unternehmensstrategie blicken, dann ist klar: Unsere übergeordneten Ziele bleiben Sicherheit, Qualität und Nachhaltigkeit. Diese Prinzipien leiten uns auch langfristig, aber die Wege, wie wir sie erreichen, verändern sich durch den technologischen Wandel. Deshalb müssen wir offen für neue Technologien sein, sie beherrschen und in vielen Fällen auch Pionierarbeit leisten. Gerade mit Blick auf den europäischen Standort ist es entscheidend, wettbewerbsfähig zu bleiben. Das gelingt nur, wenn wir intelligente Technologien gezielt einsetzen, um unsere Ziele bei Sicherheit und Nachhaltigkeit zu erreichen und gleichzeitig wirtschaftlich zu produzieren. Ein weiterer Schlüssel liegt in den Menschen. Die Organisation muss schlank aufgestellt sein, gleichzeitig aber hochkompetent und wandelbereit. Veränderungsbereitschaft, Lernfähigkeit und Engagement sind entscheidend, um neue Technologien erfolgreich zu integrieren und weiterzuentwickeln.