Insight Mercedes-Benz DIGITAL FACTORY CAMPUS Berlin

Produktionsvorstand Jörg Burzer (rechts) und Apptronik-CEO Jeff Cardenas wollen gemeinsam die Entwicklung humanoider Roboter vorantreiben. (Bild: Mercedes-Benz)

Gegensätze ziehen sich an. Oder wie Mercedes-CIO Katrin Lehmann sagt: „Um die Zukunft zu gestalten, muss man auch in die Vergangenheit schauen.“ Im Berliner Ortsteil Marienfelde reichen sich Zukunft und Vergangenheit spätestens seit 2022, als der Digital Factory Campus an Mercedes‘ ältestem Standort im Produktionsnetzwerk eingeweiht wurde, die Hand. Damals wurde das 1902 eröffnete Werk endgültig zum Kompetenzzentrum für die digitale Transformation in der Produktion des Stuttgarter Automobilherstellers.

Grundlage der Aktivitäten vor Ort ist das digitale Produktions-Ökosystem MO360, das alle wichtigen Softwareapplikationen und Daten des globalen Produktionsnetzwerks umfasst. Die globale Implementierung von Softwareapplikationen auf Basis des MO360 kombiniert der OEM auf dem Digital Factory Campus mit der Entwicklung und Erprobung neuer Prozesse und Technologien. Neueste Einblicke in das Innovationszentrum in Berlin verdeutlichen, wie nah Mercedes den Cutting-Edge-Technologien wirklich ist.

Der Autobauer hat sein digitales Produktions-Ökosystem MO360 nun mithilfe von KI-gestützten Funktionen wie dem Digital Factory Chatbot Ecosystem und der MO360LLM Suite sowie humanoiden Robotern des US-amerikanischen Unternehmens Apptronik erweitert. Aktuell werden neue Produktionsprozesse und -funktionen, die unter anderem durch das Mercedes-Benz Operating System (MB.OS) ermöglicht werden, getestet, bevor sie an Produktionslinien in anderen Montagewerken von Mercedes-Benz zum Einsatz kommen. So spielte Marienfelde etwa eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung auf den Anlauf des neuen Mercedes-Benz CLA im Werk Rastatt, dem ersten Fahrzeug mit MB.OS, das erst vor wenigen Tagen Weltpremiere feierte.

„Mit dem Standort Berlin-Marienfelde bleibt Mercedes-Benz ein Vorreiter in der Automobilproduktion und trägt dazu bei, dass Deutschland als globales Innovationszentrum wahrgenommen wird. Künstliche Intelligenz und humanoide Roboter eröffnen ein spannendes neues Feld, das die Automobilproduktion nachhaltiger, effizienter und intelligenter macht“, kommentiert Produktionschef Jörg Burzer.

Humanoide Roboter: Mercedes präsentiert Apollo

Nachdem BMW mit dem Figure02 vor einigen Monaten als einer der ersten Automobilhersteller einen humanoiden Roboter im Werksumfeld testete, zieht Mercedes nun nach und präsentiert Apollo. „Automatisierung und Robotik sind tief unserer Unternehmensgeschichte verwurzelt. 1971 haben wir die erste vollautomatische Roboter-Montagelinie in unserem Unternehmen aufgebaut. Das war der Beginn der Robotik in der Produktion. Heute sehen wir die Auswirkungen in unserer gesamten Produktion", erklärte Burzer.

Um sein Engagement für den Einsatz humanoider Roboter in der Automobilproduktion zu unterstreichen, wird das Unternehmen einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag in die Zusammenarbeit mit dem Roboterhersteller Apptronik investieren, der 2016 im Human Centered Robotics Lab der University of Texas in Austin gegründet wurde.

Ziel des Unternehmens sei es laut CEO Cardenas die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter stetig weiterzuentwickeln. „Die entscheidende Veränderung bei Robotern ist ihre zunehmende Vielseitigkeit und Flexibilität. Heute sind viele Roboter für eine einzige Aufgabe programmiert. Die Zukunft liegt jedoch in Robotern, die mehrere Aufgaben erledigen und sich nahtlos in bestehende Umgebungen integrieren können", prognostiziert er. Ähnlich wie bei Sprache könnten auch menschliche Bewegungen erfasst und in Modelle übertragen werden, um Roboter auf Basis dieser Bewegungsabläufe ohne großen Programmieraufwand anzulernen, so Cardenas.

Aktuell testet Mercedes die Integration humanoider Roboter in die Produktion, wobei der Schwerpunkt zunächst auf sich wiederholenden Aufgaben innerhalb der Intralogistik liege. Apptroniks Apollo soll verwendet werden, um Komponenten oder Module zur Produktionslinie zu transportieren, wo sie von Produktionsmitarbeitenden von Mercedes zusammengebaut werden, und um erste Qualitätsprüfungen der Komponenten durchzuführen.

Die Apollo-Roboter haben zuvor in einer Produktionsumgebung Daten gesammelt, um für spezifische Anwendungsfälle innerhalb von MO360 zu trainieren. Mitarbeitende von Mercedes mit Praxiserfahrung in der Produktion haben ihr Wissen mithilfe von Teleoperations-Prozessen und Augmented Reality auf Apollo übertragen. „Wir haben vor einem Jahr damit begonnen, Roboter sicher in Produktionsumgebungen zu integrieren. Der erste Schritt besteht darin, die Trainingsprozesse von den eigentlichen Arbeitsabläufen zu trennen. Erst wenn die Sicherheit gewährleistet ist, werden die Roboter in den regulären Produktionsprozess integriert. Wir gehen dabei sehr bedacht vor und evaluieren kontinuierlich, welche Aufgaben sinnvoll sind und wie sie am sichersten umgesetzt werden können", betont der Apptroniks-CEO. Nun vollzieht Mercedes in Berlin den nächsten entscheidenden Entwicklungsschritt: Die Apollo-Roboter lernen hier, autonom zu agieren.

Insight Mercedes-Benz DIGITAL FACTORY CAMPUS Berlin
Durch das Anlernen per Telematik ist Apollo in der Lage, die gleichen Werkzeuge zu nutzen wie seine menschlichen Kollegen und Kolleginnen. (Bild: © Mercedes-Benz Group AG)

Smarte Assistenten sollen Produktionsalltag erleichtern

Mit der MO360 AI Factory bindet der OEM das Trendthema künstliche Intelligenz praxisnah in die Produktionsabläufe ein. Das intern entwickelte Digital Factory Chatbot Ecosystem ermöglicht Mitarbeitenden den Zugriff auf Produktionsdatenbanken: Fragen zur Maschinenwartung oder zu Best-Practice-Methoden für Fertigungsprozesse können einfach per Chat gestellt werden und die KI liefert Antworten in mehreren Sprachen. „KI übernimmt für uns Aufgaben, die wir in der Regel weniger gerne erledigen. Sie verschafft uns Freiraum, den Fokus auf echte Innovationen, Kreativität und wertschöpfende Tätigkeiten zu legen. Ich bin davon überzeugt, dass KI einen wesentlichen Beitrag zum Unternehmenserfolg leistet, wenn sie strategisch eingesetzt und pragmatisch umgesetzt wird“, betont CIO Katrin Lehmann.

Ein weiteres Beispiel für den praktischen Einsatz von KI ist das virtuelle Multi-Agenten-System. KI-gestützte virtuelle Assistenten analysieren komplexe Daten in Echtzeit und können beispielsweise dabei helfen, die Ursachen plötzlicher Qualitätsabweichungen in der Produktion schnell zu identifizieren. Anstelle einer manuellen Ursachenanalyse verlassen sich die Ingenieure auf KI-Agenten eines virtuellen Data-Science-Teams. Diese KI-Agenten analysieren verfügbare Daten, identifizieren Muster und Anomalien und bieten auf Knopfdruck fundierte Analysen und Lösungsvorschläge für Effizienzsteigerungen in der Produktion.

Axial-Fluss-Motor soll 2026 in Berlin in Serie gehen

Neben der Entwicklung neuer Produktionsprozesse ist der Standort Marienfelde seit Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil des globalen Mercedes-Benz Powertrain-Produktionsverbunds. Hier werden verschiedene Komponenten des Antriebsstrangs hergestellt. Während sich die globale Automobilindustrie schrittweise von Verbrenner-Technologien hin zu einer rein elektrischen Zukunft wandelt, etabliert Mercedes seinen Berliner Standort zusätzlich als Kompetenzzentrum für die Herstellung von High-Performance-Elektromotoren.

Neben den Insights zu neuen KI-Chatbots gab der OEM daher auch erste Einblicke in die Produktion des neuen Axial-Fluss-Motors, der ab 2026 in Berlin in Serienfertigung gehen und insbesondere in High-Performance-Fahrzeugen wie AMG-Modellen eingesetzt werden soll. Im Vergleich zu konventionellen Elektromotoren konnte die Baulänge des Axial-Fluss-Motors um 70 Prozent reduziert werden, während die Leistungsdichte um den Faktor drei gesteigert wurde, erläutert Produktionstechniker Oliver Doerfel. Zudem erzeuge das Aggregat ein doppelt so hohes Drehmoment wie herkömmliche Motoren. Diese technischen Fortschritte erfordern eine völlig neue Herangehensweise in der Produktion.

Für die Herstellung entwickelte Mercedes rund einhundert Produktionsprozesse, darunter innovative Verfahren für das Biegen, Schweißen, Fügen und die Oberflächenbearbeitung. 35 davon stellen laut Automobilhersteller eine Weltneuheit dar und mit dem Entwicklungsprozess gingen über 30 Patentanmeldungen einher. Ein zentrales Beispiel ist die Fixierung der Magnete auf dem Rotor: Da sich dieser mit hoher Geschwindigkeit dreht, müssen die Magnete extrem stark verklebt werden, um den entstehenden Fliehkräften standzuhalten. Hierfür hat Mercedes einen neuen Fügeprozess entwickelt.

Ein weiteres Beispiel ist die Bearbeitung der Kupferdrähte, die für jeden Elektromotor essenziell sind. In Marienfelde wurde ein Verfahren entwickelt, das es ermöglicht, Kupferspulen ohne Falten oder Beschädigung der Isolation zu biegen, um Kurzschlüsse zu vermeiden. Die neuartigen Kupferspulenpakete werden zudem mit einer KI-unterstützten Laserbearbeitung präzise in Form gebracht und unter Strom gesetzt. Auch die Oberflächenreinigung für nachfolgende Produktionsschritte erfolgt mittels einer Laserreinigungsmaschine von Trumpf, die durch KI-gesteuerte Vermessungstechnologien optimiert wurde. „Die Industrialisierung der Axial-Fluss-Motoren ist eine Herausforderung, die wir gern angenommen haben an, da kein Lieferant unsere speziellen Bedingungen erfüllen konnte“, erklärt Doerfel.

Die Produktion der neuen Elektromotoren wird auf mehrere Hallen verteilt, da die hochspezialisierten Prozesse eine große Fertigungsfläche erfordern. Gleichzeitig ist der Automatisierungsgrad noch nicht final definiert. Besonders wertvoll für die Entwicklung der neuen Prozesse sei das Knowhow der erfahrenen Produktionsmitarbeiter aus der konventionellen Motorenfertigung gewesen, die aktiv in die Entwicklung eingebunden wurden, heißt es vom OEM.

Für die Qualifizierung der Mitarbeitenden im Umgang mit E-Komponenten setzt Mercedes auf eine Kombination aus digitalen Zwillingen und Simulationstechnologien. Langfristig sei die Vision des Autobauer, die Axial-Fluss-Technologie nicht nur für High-Performance-Modelle, sondern auch für Volumenfahrzeuge zu skalieren. Zunächst wird sie jedoch in die neue AMG.EA-Plattform integriert.

Digital Factory Campus in Berlin: Mercedes-Benz beschleunigt die Transformation seines Produktionsnetzwerks durch den Einsatz von KI und humanoiden RoboternMercedes-Benz accelerates the transformation of its production network through the use of AI and h
Mercedes neuer Axial-Fluss-Motor. (Bild: Mercedes-Benz)

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