
Flexibilität ersetzt Starrheit in den Produktionsstrategien von JLR und Daimler, sagen Loretta Dittrich (m.) und Jürgen Distl (r.) auf dem Automobil Produktion Kongress 2025. (Bild: Marko Priske)
JLR und Daimler Truck passen ihre Produktionssysteme weltweit an eine neue Realität an. Die beiden Unternehmen stehen vor der Herausforderung, gleichzeitig den Wunsch nach Fahrzeugindividualisierung zu erfüllen, die Elektrifizierung voranzutreiben und stabile Lieferketten sicherzustellen. Der Wandel betrifft dabei nicht nur Maschinen oder Prozesse, sondern vor allem das Denken. Flexibilität, früher ein Störfaktor in auf Effizienz getrimmten Linien, wird heute zum strukturellen Prinzip erhoben – und das von Beginn an.
Lange galten Standardisierung und Wiederholung als die Grundlagen effizienter Automobilproduktion. Variationen galten als teuer, Störungen unerwünscht, und auch die Logistik folgte dem Prinzip der starren Struktur. Doch die Märkte fordern inzwischen etwas anderes. Kundenwünsche differenzieren sich aus, während gleichzeitig neue Antriebsformen ins Spiel kommen und der globale Beschaffungsrahmen an Stabilität verliert. Auf dem Automobil Produktion Kongress 2025 in München berichteten Verantwortliche beider Hersteller, wie sie diese neuen Anforderungen in ihre Werke integrieren – und was das für Organisation, Technik und Menschen bedeutet.
Die Grenzen der Effizienz
Bei JLR etwa ist die Fähigkeit zur Anpassung nicht länger eine Reaktion auf äußere Umstände, sondern ein inhärenter Bestandteil der Planung. Noch vor Produktionsbeginn werden Materialflüsse simuliert, Plattformen flexibel eingepasst, logistische Abläufe angepasst. Die Zahl lackierter Karosserievarianten steigt rapide, was neue Strategien für Lagerung und Anlieferung notwendig macht. Gleichzeitig setzt man auf Kontrolle statt Reaktion: Mit Hilfe von digitalen Kontrollsystemen in der Beschaffung lassen sich Störungen frühzeitig erkennen und vermeiden. „Wir haben ein Materialbeschaffungsteam, das mit einem Control-Tower-Tool arbeitet, das uns hilft, Probleme vorherzusagen und schnell zu lösen“, erklärt Loretta Dittrich, Global Manufacturing Engineering Logistics Manager bei JLR.
Der Anspruch reicht dabei bis in die frühen Entwicklungsphasen: „Wir nutzen ein Produktbereitstellungs-Framework, bei dem alle Logistik- und Fertigungsanforderungen abgehakt sein müssen, bevor ein Programm startet […] auf diese Weise beeinflussen wir das Design viel früher.“ Es geht nicht mehr nur um Variantenvielfalt – es geht um ein integriertes System, das von der ersten Designidee bis zur finalen Montage durchdacht ist.
Auch Daimler Truck hat erkannt, dass Effizienz im klassischen Sinn an Grenzen stößt, wenn Diesel- und Elektrofahrzeuge auf denselben Linien gefertigt werden – oft im gleichen Takt. Das Unternehmen nutzt ein Build-to-Order-System, was eine hohe Varianz automatisch mit sich bringt. Produktionssysteme müssen deshalb nicht nur synchronisiert, sondern permanent justierbar sein. „Flexibilität ist für uns unerlässlich, weil wir mit Build-to-Order-Systemen arbeiten und mit natürlicher Volatilität in den Kundenanforderungen über verschiedene Märkte hinweg konfrontiert sind“, sagt Jürgen Distl, Leiter der Mercedes-Benz Trucks Operations.
Technische Integration reicht dabei nicht aus: Ingenieure sind heute aufgefordert, sich bereits in frühen Entwicklungsphasen mit den betrieblichen Realitäten der Werke auseinanderzusetzen. „Bevor sie ihre ersten Zeichnungen machen, wollen wir, dass sie mit den Betriebsbereichen sprechen“, so Distl. Die Zusammenarbeit mit Vertrieb und Aftersales schaffe einen durchgängigen Feedback-Kanal – von der Linie bis zum Endkunden.
Ein besonderer Prüfstein für diese neue Herangehensweise ist die parallele Produktion elektrifizierter und konventioneller Antriebe. Der Übergang verläuft nicht linear, sondern ist geprägt von Unsicherheit, regionalen Unterschieden und der Notwendigkeit, beides gleichzeitig zu beherrschen. So produziert Daimler Trucks eActros-Modelle unterschiedlichster Größen auf den gleichen Linien – ein Aufwand, der nur mit qualifizierten Mitarbeitenden und einer vorausschauenden Produktionsstrategie zu stemmen ist. „HV-Training ist keine kleine Aufgabe – es erfordert Zeit und Planung. Aber es ist entscheidend für Sicherheit und Effizienz“, betont Distl.
Auch bei JLR schreitet die Integration elektrischer Plattformen und eigener Batteriefertigung voran. Produktion und Logistik werden dabei immer enger verzahnt. Sogenannte "Kitting-Zonen" direkt an der Linie verkürzen Wege und minimieren Fehlerquellen. „Wir entwerfen Produkt- und Produktionsflüsse heute viel effizienter“, sagt Dittrich. Dabei weicht das klassische Design-for-Logistics zunehmend einem übergeordneten Ziel: Design for Automation.
Automatisierung nur bei echtem Nutzen
Doch all diese Flexibilität hat ihren Preis – räumlich, logistisch und technologisch. Zusätzliche Varianten benötigen zusätzliche Lagerflächen, neue Systeme zur Sequenzierung und gezielte Automatisierung. In Solihull setzt JLR auf automatisierte Lagerlösungen mit schmalen Gängen und Systeme wie „Goods-to-Person“, während Daimler in der Endmontage bewusst auf wartungsarme Lösungen setzt, statt umfassend zu automatisieren. Auch neue Technologien wie Cobots werden kritisch hinterfragt. „Wir glauben nicht daran, alles nur um der Automatisierung willen zu automatisieren – es braucht einen triftigen Grund und einen klaren Nutzen“, erklärt Distl. „Wenn Automatisierung nicht von Anfang an mitgedacht wurde, ist sie schwer umzusetzen“, ergänzt Dittrich.
Im Zentrum dieser Transformation steht der Mensch. Beide Unternehmen investieren gezielt in Ausbildung und Weiterbildung. Daimler hat ein strukturiertes Onboarding für Zeitarbeitskräfte etabliert und setzt auf gezielte Qualifizierung zur langfristigen Bindung. „Gehalt allein hält die Leute nicht – man braucht gute Schulung“, betont Distl auf dem APK in München. Bei JLR beginnt Transformation in der Führungsetage: Trainings zur Führung unter Unsicherheit sollen helfen, den Wandel aktiv zu gestalten. Gleichzeitig entsteht über Workforce-Planning ein klares Bild zukünftiger Anforderungen, ergänzt durch experimentelle Räume wie das National Innovation Centre.
Ein Thema, das bei aller internen Optimierung zunehmend in den Vordergrund rückt, ist die Zusammenarbeit mit Lieferanten. Komplexere Produkte, JIS-Prozesse und individuell zugeschnittene Komponenten wie Reifen erfordern enge Abstimmung. Wer heute Fahrzeuge baut, muss auch die Fähigkeiten, Ressourcen und Engpässe seiner Partner verstehen. „Es ist zu einfach, die Lieferanten zu beschuldigen. Wir sitzen im selben Boot“, so Distl. Produktion wird so zur kooperativen Aufgabe – über Unternehmensgrenzen hinweg.
JLR und Daimler Truck zeigen auf dem Automobil Produktion Kongress 2025, dass sie nicht nur auf Veränderungen reagieren. Sie gestalten sie, indem sie ihre Systeme, Prozesse und Strukturen darauf vorbereiten. Was früher als Ausnahme galt, wird zur Regel: Produktion soll nicht mehr nur funktionieren – sie muss sich bewegen können. Und genau diese Beweglichkeit entscheidet künftig über Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei unserem Schwestermagazin automotive manufacturing solutions.
Der Automobil Produktion Kongress 2025

Am 15. Mai 2025 trafen sich auf dem Automobil Produktion Kongress in München wieder hochrangige Fach- und Führungskräfte, um über die Automobilfertigung der Zukunft zu sprechen. Mit dabei unter anderem Porsche-Produktionsvorstand Albrecht Reimold, Sara Gielen, Werkleiterin bei Mercedes-Benz Sindelfingen oder BMWs Logistikchef Michael Nikolaides. Sie alle berichteten über Strategien und Use Cases, wie eine smarte, flexible sowie nachhaltige Produktion mit transparenter Lieferkette realisiert werden kann. Alle Infos zum Event hier.