Sara Gielen: Leiterin der Produktion des Mercedes-Benz Werks Sindelfingen und Standortverantwortliche – Mercedes-Benz AG /// Head of production & manager of Mercedes-Benz plant Sindelfingen

Sara Gielen ist seit Sommer 2024 Leiterin der Produktion des Mercedes-Benz Werks Sindelfingen. Sie war vorher über 20 Jahre bei Ford, unter anderem Werkleiterin in Saarlouis. (Bild: Mercedes-Benz)

Gut 110 Jahre stellt Mercedes-Benz am Stammwerk in Sindelfingen Autos der Ober- und Luxusklasse her – ein Standort mit Geschichte also, der zugleich für Zukunft stehen will. Mit der Factory 56 will Mercedes-Benz Maßstäbe in Sachen Digitalisierung und Automatisierung setzen. Doch selbst das Vorzeigewerk der Schwaben steht vor tiefgreifenden Veränderungen: Anpassungen der Produktion – unter anderem bei der S-Klasse – und das Ziel, die Produktionskosten bis 2027 um zehn Prozent zu senken, unterstreichen den steigenden Effizienzdruck.

Seit letztem Jahr trägt Sara Gielen, zuvor über zwei Jahrzehnte bei Ford tätig, als neue Werkleiterin die Verantwortung. Am Rande der Grundsteinlegung der neuen Lackieranlage sprach sie mit Automobil Produktion über die anstehenden Herausforderungen im Werk, über Digitalisierung und ihr Verständnis von Führung.

Sara Gielen spricht auf dem APK!

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Frau Gielen, mal ganz offen gefragt: Wie viel Spaß macht es Ihnen momentan, in der Autoindustrie zu arbeiten?

Ich liebe meinen Job – und das ganz unabhängig von der jeweiligen Marktsituation. Die Produktion ist ein Bereich, der immer mit Herausforderungen verbunden ist. Und genau das reizt mich. Ich weiß heute ganz sicher, was ich beruflich wirklich liebe: die Kombination aus Mensch und Technik. Und das finde ich in meinem Job jeden Tag wieder. Natürlich wird die Produktion zunehmend digitalisiert und automatisiert – auch hier in Sindelfingen. Aber der Mensch bleibt trotzdem zentral. Ohne mein Team würde ich gar nichts erreichen. Ich habe hier das große Glück, mit Kolleginnen und Kollegen zu arbeiten, die unglaublich engagiert, kreativ und innovativ sind. Wir unterstützen uns gegenseitig, ziehen an einem Strang – und das macht einfach Spaß.

Autobauer und Zulieferer vermeldeten zuletzt reihenweise Gewinneinbrüche, teilweise sogar Verluste und kündigten massive Sparprogramme mit Stellenabbau an. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Belegschaft hier am Standort wahr?

Natürlich spürt man hier und da eine gewisse Verunsicherung. Man darf ja nicht die Augen davor verschließen, was außerhalb der Werkstore passiert. Aber genau das macht meinen Job so spannend: Ich sehe es als meine zentrale Aufgabe, die Mannschaft zusammenzuhalten, Orientierung zu geben und den Fokus auf das zu legen, was wir selbst in der Hand haben. Wir bei Mercedes-Benz Sindelfingen haben eine klare Strategie. Unser Leitsatz lautet: Mutig besser werden. Genau das versuche ich Tag für Tag zu leben und weiterzugeben. Jeder Einzelne soll die eigene Energie darauf verwenden, dort anzusetzen, wo wir wirklich etwas bewegen können. Das erfordert viel Kommunikation, Offenheit und gegenseitiges Vertrauen.

Vor ihrem Engagement bei Mercedes waren Sie mehr als 20 Jahre bei Ford in verschiedenen Funktionen unterwegs, unter anderem als Werkleiterin in Saarlouis. Dort rollt im November nun das letzte Auto vom Band, Ford selbst steht hierzulande massiv unter Druck. Wie blicken Sie auf die Entwicklungen?

Für mich hat mit dem Wechsel zu Mercedes-Benz ein neues Kapitel begonnen – und mein Blick ist ganz klar nach vorne gerichtet. Ich habe bei Ford eine tolle Karriere erlebt, für die ich sehr dankbar bin. Aber heute möchte ich lieber über meinen neuen Arbeitgeber und meine aktuellen Aufgaben sprechen.

Wie unterscheidet sich die Verantwortung hier in Sindelfingen von Ihrer Arbeit bei Ford. Haben Sie mehr oder weniger Freiheiten?

Ich vergleiche ungern direkt, aber die Frage wird mir tatsächlich oft gestellt. Was ich hier in Sindelfingen ganz besonders spüre, ist dieses starke Miteinander. Das hat mich wirklich beeindruckt. Natürlich macht man sich vor einem Wechsel Gedanken, zumal ich nicht im Unternehmen groß geworden bin, kein internes Netzwerk hatte. Dazu kommt: Meine Muttersprache ist Flämisch, nicht Deutsch. Da fragt man sich schon, wie man aufgenommen wird, ob man ernst genommen wird. Aber ab dem ersten Tag habe ich mich hier unglaublich willkommen gefühlt. Ich bringe Erfahrung im Automobilbau mit – und jetzt darf ich an einem Standort arbeiten, der für Top-End- und Luxusfahrzeuge steht. Teil davon zu sein, ist etwas ganz Besonderes für mich.

Also keinerlei Krisenstimmung hier am Standort?

Nein, davon kann keine Rede sein – aber natürlich haben auch wir unsere Herausforderungen. Und es wäre naiv, die Entwicklungen in der Branche oder das, was in der Welt da draußen passiert, auszublenden. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir uns aktiv und zukunftsorientiert aufstellen. Ich sage oft: Es wird niemand mit einem silbernen Tablett vorbeikommen, auf dem alle Lösungen für die Zukunft serviert werden. Diese Lösungen müssen wir selbst erarbeiten – gemeinsam im Team. Meine Aufgabe ist es, genau dafür den Raum zu schaffen. Jeder hier in Sindelfingen soll verstehen, wie viel Einfluss er oder sie selbst nehmen kann. Ideen sind gefragt, Mitdenken und Mitgestalten ausdrücklich gewünscht. Je mehr Menschen sich einbringen, desto stärker sind wir als Organisation – jetzt und in Zukunft.

Vor kurzem wurde hier in Sindelfingen der Grundstein für einen neue hochmoderne Lackieranlage gelegt, die 2028 ihren Betrieb aufnehmen soll. Trägt eine solche Investition auch dazu bei, Sicherheit und Perspektive in die Belegschaft zu tragen?

Absolut. In der heutigen Zeit ist eine Investition dieser Größenordnung alles andere als selbstverständlich – umso stolzer sind wir, dass wir diesen Meilenstein feiern konnten. Die Grundsteinlegung ist für uns ein ganz klares Bekenntnis zum Standort Sindelfingen und zur Zukunft unseres Werks. Eine neue Lackiererei baut man nicht für fünf Jahre – das ist eine Investition mit langfristiger Perspektive. Und genau das gibt auch unserer Mannschaft Rückenwind: Wir stellen die Weichen für die nächsten Jahrzehnte.

Stichwort Flexibilität: Die Nachfrage-Schwankungen bei der Elektromobilität erfordern maximale Anpassungsfähigkeit. Sind Sie trotzdem weiterhin tiefenentspannt?

Tiefenentspannt ist aus meiner Sicht kein Begriff, der zur Produktionsumgebung passt. Wir sind hier zielstrebig, wir wollen vorne mitspielen – und dafür braucht es eine klare Gewinner-Mentalität. Natürlich gelingt das nur, wenn man sich auch entsprechend aufstellt. Und da sind wir in Sindelfingen sehr gut positioniert: Wir verfügen über die nötige Flexibilität, um auf sich verändernde Marktbedingungen schnell zu reagieren. Am Ende entscheidet unser Kunde, in welche Richtung es geht – und unsere Aufgabe ist es, ihn mit den besten Produkten zufriedenzustellen. Die Investitionen, die hier in den letzten Jahren getätigt wurden – zum Beispiel in die Factory 56 – zahlen genau darauf ein. Sie schaffen die Voraussetzungen, um effizient und gleichzeitig hochflexibel produzieren zu können.

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Ich sage oft: Es wird niemand mit einem silbernen Tablett vorbeikommen, auf dem alle Lösungen für die Zukunft serviert werden. Diese Lösungen müssen wir selbst erarbeiten – gemeinsam im Team.

Sara Gielen, Mercedes-Benz

Die kürzlich von Ihrem CEO Ola Källenius vorgestellte Bilanz für 2024 hat es deutlich gemacht: Der Druck auf die Profitabilität ist enorm. Bis 2027 sollen die Produktionskosten um zehn Prozent sinken, Kapazitäten werden neu kalibriert. Wie wollen Sie in Sindelfingen konkret dazu beitragen?

Ich bin jemand, der sich immer ambitionierte Ziele setzt – ganz unabhängig davon, was von außen vorgegeben wird. Natürlich ist der wirtschaftliche Druck groß, das weiß jeder in der Branche. Aber für mich gilt: Ich möchte mit meinem Team gewinnen. Ich möchte jeden Tag das Beste aus unseren Möglichkeiten herausholen. Dazu gehört es, kontinuierlich an Verbesserungen zu arbeiten, etwa über bessere Prozesse, über gezielte Automatisierung. Wir prüfen laufend, wo neue Technologien wie künstliche Intelligenz uns helfen können, effizienter zu werden. Wir setzen unsere digitalen Systeme gezielt ein, wir investieren in Qualifikation und Innovation. All das sind Bausteine, um die Produktionskosten zu senken, ohne an Qualität oder Flexibilität einzubüßen. Denn eines ist klar: Sparen darf nie Selbstzweck sein. Es muss uns immer auch stärker machen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, an welcher Stelle Sie aktuell an der Effizienzschraube drehen wollen?

Wir haben hier in Sindelfingen die komplette Wertschöpfungskette an einem Standort – vom Presswerk bis hin zu Fahrzeugmontage in höchster Qualität für unsere Kunden. Und in dieser Kette gibt es viele Stellhebel, um effizienter zu agieren. Das beginnt bei organisatorischen Fragen: Arbeiten wir weiter in Silos oder denken wir in breiteren, übergreifenden Strukturen? Es geht um die Frage, wie wir Prozesse gestalten, zum Beispiel bei der Pufferanwendung in unseren Produktionssystemen. Oder wir analysieren die Logistikprozesse: Können wir mit Warenkörben arbeiten? Macht eine direkte Bereitstellung von Teilen an der Linie Sinn? Wichtig ist dabei immer: Wir hinterfragen permanent, welche Prozessschritte tatsächlich Mehrwert schaffen – und wo wir unnötigen Aufwand betreiben. Solche Prozesse wollen wir identifizieren und möglichst vermeiden.

Ein Beispiel für flexible Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen ist die Umstellung der S-Klasse-Produktion auf Einschichtbetrieb. Gehören solche Maßnahmen auch zu einer zukunftsfähigen Aufstellung?

Absolut. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir uns flexibel auf sich verändernde Produktionsvolumen einstellen. Das gehört zu unserer Verantwortung als Fertigungsstandort Unser Ziel ist es, langfristige und zukunftsorientierte Beschäftigung zu schaffen – nicht Arbeit nur um der Arbeit willen – wir haben einen klaren wirtschaftlichen Auftrag. Und dem kommen wir nur nach, wenn wir unsere Produkte effizient und marktgerecht fertigen. Die Anpassung von Schichtmodellen ist da ein ganz normaler Teil unserer Vorstellung von Flexibilität.

Bei Ford in Köln lagen Ihnen die Themen „Lean“ und „Digital“ besonders am Herzen. Da müssen Sie sich mit der Factory 56 in Sindelfingen ja sehr wohlfühlen …

(lacht) Wenn schon alles perfekt wäre, würde es für mich ehrlich gesagt langweilig werden – und das ist nicht das, was ich suche. Genau die Begriffe „lean“ und „digital“ bedeuten für mich: Es gibt kein Ende, keinen endgültigen Zielpunkt. Technologien entwickeln sich ständig weiter – und unser Anspruch ist es, mit ihnen mitzuwachsen. Klar ist: Hier in Sindelfingen wurden mit der Factory 56 und unserer Digitalisierungsplattform MO360 die richtigen Grundlagen gelegt. Aber für uns ist das nur der Anfang. Unser Anspruch ist es, stetig besser zu werden – ganz im Sinne des Prinzips der Kontinuierlichen Verbesserung (KVP, Anmd. d. Red.). Dafür brauchen wir die passenden Werkzeuge – gerade in einem hochkomplexen Umfeld wie dem Top-End-Segment, das wir hier in Sindelfingen herstellen. Wir haben kürzlich unser Manufaktur-Studio eröffnet, das noch mehr Individualisierung in die Fertigung bringt. Das erhöht die Komplexität enorm – und um das zu meistern, braucht es digitale Intelligenz. Genau das fasziniert mich: Ich bin sehr neugierig, habe auch früher mit Universitäten zusammen an Analysetools gearbeitet, um Produktionsprozesse besser zu verstehen. Diese Leidenschaft kann ich hier perfekt einbringen. Und nein – wir sind noch lange nicht am Ziel. Aber wir bewegen uns jeden Tag weiter.

Gab es denn eine Innovation oder ein Tool, das Sie hier in Sindelfingen besonders beeindruckt hat – etwas, das Sie so aus Ihrer bisherigen Berufserfahrung noch nicht kannten?

Da fällt es schwer, nur ein Beispiel zu nennen – die gesamte Konzeption der Factory 56 ist beeindruckend. Aber wenn ich etwas herausgreifen müsste, dann ist es sicher die Flexibilität unserer Montagelinie: Dass wir alle Antriebsarten – von Verbrenner über Hybrid bis vollelektrisch – auf einer Linie bauen können und dabei trotzdem eine hohe Effizienz sicherstellen, ist wirklich bemerkenswert. Und dann unsere MO360-Plattform: Sie bringt riesige Mengen an Daten zusammen und bereitet sie so auf, dass sie intuitiv nutzbar sind. Man muss kein Datenexperte sein, um mit diesen Informationen zu arbeiten – die Benutzeroberflächen sind klar, übersichtlich und direkt auf die Bedürfnisse der Produktion abgestimmt. Ob Qualität, Arbeitssicherheit oder Effizienzkennzahlen – alle KPIs sind in Echtzeit verfügbar. Das gibt uns die Möglichkeit, kontinuierlich nachzujustieren und uns immer weiter zu verbessern.

Im Werkverbund von Mercedes gilt ja bekanntlich der Standort Rastatt als Reallabor für Digitalisierung. Wie von Ihnen beschrieben, steht aber auch Sindelfingen bei KI und Co. in nichts nach. Gibt es so etwas wie einen Innovationswettstreit der Standorte?

Wir haben hier in Sindelfingen einen enormen Vorteil: Alle relevanten Fachbereiche – von der Entwicklung über die Planung bis zur Fertigung – sind an einem Ort gebündelt. Das ermöglicht uns sehr kurze Wege und schnelle Umsetzungen. Und ja, wir sehen es als Selbstverständlichkeit, dass wir neue Technologien hier nicht nur testen, sondern auch in den Serienbetrieb überführen. Dabei profitieren wir enorm von der langjährigen Erfahrung unserer Mitarbeiter. Aber das Ganze ist kein Konkurrenzkampf, es ist ein Miteinander. Wir arbeiten alle für das gleiche Ziel: Mercedes-Benz als Unternehmen voranzubringen. Wenn es in Rastatt ein gutes Beispiel für Effizienzsteigerung gibt, tauschen wir uns offen aus.

Wir haben kürzlich in Berlin von Produktionsvorstand Jörg Burzer einen symbolischen Handshake mit einem humanoiden Roboter gesehen. Wann wird Apollo in Sindelfingen Realität?

Der Startpunkt für einen möglichen Einsatz von Apollo wird in der Intralogistik liegen – dort sehen wir großes Potenzial, um humanoide Robotik wirtschaftlich und effizient einzubinden. Wenn hierfür Testreihen in Sindelfingen durchgeführt werden sollen, dann stehen unsere Türen offen.

Wie vermitteln Sie solche futuristischen Technologien den Mitarbeitern auf dem Shopfloor? Gerade bei humanoiden Robotern könnten die Reaktionen ja auch kritisch ausfallen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Veränderung zur Industrie dazugehört – immer schon. Denken wir 20 Jahre zurück oder an die Diskussionen rund ums autonome Fahren: Viele Dinge, die damals wie Zukunftsmusik klangen, sind heute Realität. Entscheidend ist, dass wir Innovationen gemeinsam denken. Wir setzen nichts einfach „top-down“ um, sondern beziehen unsere Mitarbeiter aktiv ein – im Dialog, mit Transparenz und mit dem klaren Ziel, gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Auch Roboter waren einmal neu – heute sind sie selbstverständlicher Teil vieler Prozesse und übernehmen physisch anstrengende oder monotone Tätigkeiten. Genauso gehen wir mit dem Thema „Humaniode Robotik“ vor: Wir prüfen, wo so eine Maschine repetitive oder unergonomische Aufgaben übernehmen kann, um die Menschen zu entlasten und zu unterstützen.

Wenn Sie sagen, die Ideen entstehen gemeinsam – wie kann man sich das konkret vorstellen? Wie werden die Mitarbeitenden in den Innovationsprozess eingebunden?

Wir leben hier in Sindelfingen eine sehr ausgeprägte Teamkultur. Mitarbeiter sind nicht nur Ausführende, sondern aktiv in den Verbesserungsprozess eingebunden. Wir nutzen unsere digitalen Systeme gezielt, um aufzuzeigen, wo es Potenzial für Optimierungen gibt – sei es in Abläufen, im Handling oder in der Logistik. Dann geht es darum, diese Potenziale gemeinsam zu bewerten: Wo liegen konkrete Anwendungsmöglichkeiten, wo der tatsächliche Bedarf? Genau an diesem Punkt beginnt die eigentliche Ideengenerierung – und die kann nur gemeinsam mit den Menschen auf dem Shopfloor stattfinden. Ich bin überzeugt: Gute Führung bedeutet nicht, Lösungen vorzugeben, sondern auch zuzuhören. Ich lege großen Wert darauf, im Dialog Potentiale zu erkennen – und Wege zu finden, wie wir gemeinsam dorthin kommen. Natürlich habe ich eine klare Vision und kenne unsere Strategie. Aber sie wird stärker, wenn sie mit der Erfahrung und dem Wissen vieler ergänzt wird.

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Wir setzen nichts einfach „top-down“ um, sondern beziehen unsere Mitarbeiter aktiv ein – im Dialog, mit Transparenz und mit dem klaren Ziel, gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

Sara Gielen, Mercedes-Benz

Noch einmal ganz konkret gefragt: Nehmen Sie bei den Mitarbeitenden auch Ängste wahr, wenn es um Themen wie humanoide Roboter oder Automatisierung geht?

Unsere Mannschaft ist unglaublich vielfältig – mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Sichtweisen. Und natürlich gibt es auch Menschen, die sich erst einmal Gedanken machen oder sogar Sorgen haben, wenn neue Technologien eingeführt werden. Das ist völlig normal und das nehme ich auch ernst. Aber genau deshalb ist der offene Austausch so wichtig. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass alle denken wie ich. Was zählt, ist der gegenseitige Respekt – und das Verständnis dafür, dass nicht jede Veränderung sofort bei allen auf Begeisterung stößt. Gleichzeitig sehe ich aber auch eine große Bereitschaft, sich einzubringen, Ideen zu entwickeln und Neues mitzugestalten. Und gerade die Vielfalt im Team ist ein enormer Vorteil: Sie bringt unterschiedliche Perspektiven zusammen – und genau daraus entstehen die besten Lösungen.

Beim Thema Digitalisierung und künstliche Intelligenz blickt man häufig in Richtung USA oder China, wo viele Lösungen deutlich schneller auf den Markt kommen. Wie sehen Sie den Standort Deutschland im internationalen Vergleich – auch mit Blick auf die politischen Rahmenbedingungen?

Ich denke, die ersten Schritte sind gemacht – aber es fehlt uns noch an Geschwindigkeit. Wir müssen lernen, in größeren Schritten zu denken und Entscheidungen teilweise sehr schnell zu treffen. Dabei spielen natürlich die politischen Rahmenbedingungen eine Rolle. Aber ich wünsche mir, dass wir nicht erst alles zu einhundert Prozent zu Ende durchdeklinieren müssen, bevor wir etwas auf den Weg bringen.

Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut sprach bei der Grundsteinlegung der Lackiererei von einem „Window of Opportunity“ – einer Chance für Europa, Innovation gemeinsam zu gestalten. Sehen Sie das auch so?

Unbedingt. Ich finde es wichtig, dass wir möglichst viele Hebel gemeinsam in Bewegung setzen – das erhöht automatisch die Geschwindigkeit. Es braucht jetzt klare Schritte in die richtige Richtung. Ich kann das vielleicht besonders gut beurteilen – ich komme aus Belgien. Und auch wenn Belgien kleiner ist: In Sachen Digitalisierung sind dort manche Dinge schon deutlich einfacher. Ich kann dort zum Beispiel alles mit meinem digitalen Ausweis erledigen – das ist ein anderes Level. Und ich würde mir wünschen, dass solche Standards auch schneller nach Deutschland übertragen werden.

Wie verändern sich Führungsaufgaben in einem Werk, das sich so stark transformiert – und was bedeutet das für Ihre Rolle als Werkleiterin?

Ich glaube, mich selbst zu verändern, wäre eine schwierige Aufgabe – und auch gar nicht notwendig (lacht). Ich bin ein Mensch, der Veränderung braucht und gerne aktiv gestaltet. Ich glaube an Fortschritt und daran, dass wir mit einem positiven Blick nach vorn viel bewegen können. In der Produktion müssen wir ohnehin immer agil reagieren, das liegt in der Natur des Geschäfts. Heute fehlt eine Komponente, morgen blockiert ein Lkw – wir sind es gewohnt, flexibel zu handeln. Diese Agilität brauchen wir jetzt mehr denn je. Mir ist wichtig, dass ich als Führungskraft Orientierung gebe, aber auch Raum schaffe für Ideen und Eigeninitiative. Unsere Strategie ist klar – und ich glaube fest daran. Aber die Umsetzung liegt bei uns. Jeder kann etwas bewirken.

Abseits der täglichen Verantwortung für eines der wichtigsten Mercedes-Benz Werke mit rund 33.500 Mitarbeitenden – welche persönlichen Schwerpunkte wollen Sie setzen?

Ich will, dass wir hier in Sindelfingen ganz klar zeigen: Das ist der richtige Standort für unsere Top-End-Produkte – auch unter wirtschaftlichem Druck. Und ich will, dass wir beweisen, dass wir nicht nur effizient und wettbewerbsfähig sind, sondern auch innovationsstark. Veränderung ist für mich keine Bedrohung – sie ist ein Muss. Aber Veränderung muss gemeinsam passieren. Mein Wunsch ist es, dass unsere Mitarbeiter Selbstvertrauen entwickeln, Verantwortung übernehmen, Ideen einbringen. Mein idealer Arbeitstag: Morgens stehen zehn Leute bei mir im Büro mit konkreten Vorschlägen, wie wir Prozesse verbessern, digitalisieren oder effizienter gestalten können – mit Eigeninitiative, nicht mit Millionenaufwand. Ich verstehe meine Rolle als Ermöglicherin. Ich will gemeinsam mit meinem Team Entscheidungen treffen: Ja, wir gehen diesen Weg – oder wir gehen ihn nicht. Aber wir gehen ihn gemeinsam.

Zur Person:

sara gielen
(Bild: Mercedes-Benz)

Nach erfolgreichem Abschluss ihres Ingenieurstudiums in Produktionsmechanik begann Sara Gielen ihre berufliche Laufbahn 1997 bei dem metallverarbeitenden Unternehmen Haesevoets n.v. in Herk de Stad, Belgien. Im Jahr 2000 wechselte sie zur Ford Motor Company, wo sie erfolgreich das Konzept für den Industriepark Genk entwickelte. Außerdem war sie in dieser Zeit an der Entwicklung des Industrieparks in Köln beteiligt. Im Jahr 2002 erwarb sie berufsbegleitend einen Executive Master of Business Administration. Nach mehreren Führungspositionen in den Bereichen Lackiererei, Produktionssteuerung und Montage übernahm sie 2012 die Produktionsleitung der Fahrzeugmontage in Genk. Im Jahr 2015 wurde ihr zusätzlich die Bereichsleitung der gesamten Montage und ab 2019 die Bereichsleitung der Karosseriebau übertragen. Im Jahr 2020 führte Sara Gielen als stellvertretende Werksleiterin des Ford-Werks Köln die Mindset-Transformation „Lean & Digital“ erfolgreich ein. Von 2021 bis 2023 war sie Leiterin des Ford-Werks. Im Juli 2024 wechselte sie zur Mercedes-Benz AG und ist seitdem Standortleiterin und Produktionsleiterin im Werk Sindelfingen.

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