Ein Serienauto ist der blau lackierte Riese noch nicht. Im Designstudio im obersten Stockwerk der europäischen Kia-Zentrale in Frankfurt steht offiziell ein sogenanntes Concept-Auto. Ein Einzelstück also, mit dem Ingenieure und Zeichenkünstler zeigen, wohin die Reise ihrer Arbeit in Zukunft gehen wird. Meist verschwinden diese „Studien“ später klammheimlich in verschlossenen Tiefgaragen, reisen als nie verwirklichte Ausstellungsstücke rund um die Welt oder werden schlicht verschrottet. Beim neuen Kia EV9 ist da vieles anders. Das Serienauto ist schon längst fertig, bleibt aber ein gut gehütetes Geheimnis. Denn die Zukunft des kantigen Fünf-Meter-Siebensitzers wird in nur 300 Tagen zur Gegenwart.
Nach dem EV6, dem derzeitigen elektrischen Überflieger mit Kia-Logo, soll nun das gewaltig wirkende SUV für Furore sorgen. „Ein weiterer Meilenstein auf unserer Reise seit der Neuausrichtung der Marke Kia“, sagt Vizepräsident und Chefdesigner Karim Habib. Vielleicht auch, um das wahre Kleid des EV9 noch eine Zeitlang zu verschleiern, trägt das gezeigte Concept-Auto deutliche Elemente, die es sicher nicht auf die öffentlichen Straßen schaffen. Zum Beispiel die nach dem Kleiderschrank-Prinzip gegenläufig öffnenden Seitentüren. Da für die Crashsicherheit eine dicke mittlere B-Säule nötig sein dürfte, wird das Serienmodell wohl auf diese Art von Luftigkeit und Einsteigekomfort verzichten müssen. Ähnliches gilt für das etwas verspielt anmutende Scheinwerfergesicht mit seinen zahllosen LED-Lämpchen oder das rechteckige Lenkrad. Letztes lässt sich sogar weitgehend im Armaturenbrett versenken.
Der Kia EV9 soll teilweise selbstständig überholen können
Das Versteckspiel allerdings könnte es tatsächlich in den Verkauf schaffen. Denn der EV9 soll Vorreiter beim autonomen Fahren werden und das sogenannte „Level 3“ schaffen. Mit ihm ist festgelegt, dass der Fahrer sich vorübergehend von Fahraufgabe und Verkehr abwenden darf, aber nach Aufforderung der Technik die Lenkarbeit kurzfristig wieder übernehmen muss. In vom Hersteller vorgegebenen Verkehrssituationen kann das Auto also selbstständig fahren, sogar automatisch überholen. Damit liegt der Koreaner beim Wettlauf um das Level 3 mit der Mercedes S-Klasse und ihrer Elektro-Variante gleichauf.
Wesentliche technische Details verschweigt Kia noch. Wie groß ist die Batterie, wie hoch ist die Motorleistung, gibt es ein oder zwei Elektro-Triebwerke? Hinweise liefern die Reichweite von 540 Kilometern pro Batterieladung oder die Fähigkeit, in nur sechs Minuten Strom für weitere 100 Kilometer Fahrt nachzuladen. Die Schwestermarke Hyundai hat ihr SUV Ioniq 7 ebenfalls bereits als „Concept Seven“ präsentiert. Hier ist die Rede von einem 800-Volt-Batteriesystem, 220 kWh Ladeleistung und einer Kraft von maximal 600 PS. Der 1,80 Meter hohe Kia EV9 wird sicher ähnliche Werte erreichen, um auf die genannten fünf Sekunden von 0 auf 100 km/h zu kommen.
Der EV9 gibt sich nicht nur beim Antrieb grün
Kein Geheimnis macht Kia aus seinem Bemühen, den Innenraum möglichst umweltgerecht auszustatten. Das Stichwort ist „Mut zur Natur“. So werden für den Bodenbelag recycelte Fischernetze verwendet, die Sitzbezüge waren in ihrem früheren Leben Plastikflaschen und Wollfasern. Im gesamten Innenraum kommt veganes Leder zum Einsatz. Kia plant, die Verwendung von Tierleder in all seinen Fahrzeugen schrittweise zu reduzieren. "Grün“ ist auch die Idee, den oberen Teil der Motorhaube vor der Windschutzscheibe, der bei Verbrennern zur Motorentlüftung vorgesehen ist, durch ein Solarmodul zu ersetzen. Das kann einen Teil der Stromversorgung übernehmen und so die Hauptbatterie entlasten. Gut für die Aerodynamik ist die Möglichkeit, die Dachreling auf Knopfdruck aus- oder einzufahren. Auch die kleinen Monitore, die dank eines Kamerasystems die Außenspiegel ersetzen, flutschen geschmeidiger durch die Fahrtwinde als die dicken Spiegelohren der meisten Autos.
Bei aller kastigen Größe kann der EV9 mehr als nur SUV. Mit sieben Sitzen gleicht er auch einem Großraum-Kombi, dessen Familienfreundlichkeit den früheren Erfolgsmodellen Chrysler Voyager oder Renault Espace nicht nachsteht. Er könnte aber trotz langer Motorhaube auch dem ID Buzz ans Blech rücken. Der Preis des koreanischen Naturfreunds steht noch nicht fest.