Dürr-Vorstandsmitglied Jochen Weyrauch im Interview mit Automobil Produktion.

Das Automotive-Geschäft in Europa bleibt laut Jochen Weyrauch, Vorstandsmitglied Dürr AG, verhalten. (Bild: Claus Dick)

Muss sich Dürr vor Wettbewerbern aus Asien in Acht nehmen? Welchen Stellenwert haben die DXQ-Softwareangebote und welche Neuerungen sind als Pionierpartner der Industrial Cloud von Volkswagen denkbar? Die Antworten auf diese und weitere Fragen liefert das vollständige Interview mit Jochen Weyrauch in der aktuellen Ausgabe der Automobil Produktion (04-05/2020).

Herr Weyrauch, die Corona-Pandemie stellt die Autoindustrie auf den Kopf. Sehen Sie in der Krise eher eine existenzielle Bedrohung, der man sich mit aller Kraft entgegenstemmen muss, oder vielleicht doch auch neue Chancen für die Zukunft?

Eine Existenzbedrohung für das Unternehmen stellt die aktuelle Situation nicht dar. Unsere Finanzierung ist gesichert. Die Halbjahreszahlen, die wir Ende Juli veröffentlicht haben, zeigen zwar Geschäftseinbußen, belegen aber auch, dass wir mit der Krise umzugehen wissen. Dürr hat auf der Liquiditätsseite frühzeitig vorgesorgt und ist in vollem Umfang handlungsfähig. In China liegt unser Auftragseingang im Vergleich zu 2019 um 60 Prozent höher – dort schlagen sich die hohe Nachfrage nach Produktionstechnik für Elektroautos sowie Zuwächse in der Umwelttechnik positiv nieder. Die Projekt-Pipeline ist dort weiterhin gut gefüllt.

Wie schaut es in anderen Weltregionen aus?

In Europa bleibt das Automotive-Geschäft verhalten. In Nordamerika hat die Coronakrise unsere Aktivitäten vor allem in den Monaten März bis Mai beeinträchtigt. Wir beobachten nun aber eine allmähliche Nachfragebelebung und rechnen im zweiten Halbjahr mit einem Plus beim Auftragseingang gegenüber der ersten Jahreshälfte. Weltweit stehen in den nächsten Wochen einige Projektvergaben an, bei denen wir uns gute Chancen ausrechnen. Auch unser Servicegeschäft zieht wieder an. Um es zusammenzufassen: Nachdem die Automobilbranche ein tiefes Tal der Tränen durchquert hat, nehme ich in meinen Gesprächen mit Herstellern jetzt vorsichtige Zeichen einer Besserung und leichten Optimismus wahr – das Sentiment verbessert sich wieder.

Abseits der Geschäftszahlen: Hat Corona Dürr kulturell verändert?

Die Krise hat in unseren Reihen für einen weiteren Digitalisierungsschub gesorgt. In der ersten Lockdown-Phase haben wir unsere Mitarbeiter wie viele andere Unternehmen auch ins Homeoffice geschickt und festgestellt, dass die virtuelle Zusammenarbeit in den Teams besser funktioniert als erwartet. Geholfen hat uns zudem die Tatsache, dass Dürr in vielen Märkten präsent ist. In Zeiten, in denen Reisen schwierig oder in einigen Regionen gar unmöglich ist, erweist es sich als Vorteil, lokal aufgestellt und autonom zu sein. Wir können alle Projekte weiterführen.   

OEMs und Zulieferer verfolgen derzeit dasselbe Ziel: Aufholen, zurück zum Alltag vor dem Shutdown. Welche Herausforderungen sehen Sie auf diesem Weg für Ihr Unternehmen?

Die Normalisierung braucht mehr Zeit, als mancher sich wünscht. Wir gehen davon aus, dass die Automobilproduktionszahlen erst 2023 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Allerdings wird es regionale Unterschiede geben: In Europa zum Beispiel hatten wir schon vor der Coronakrise keine allzu hohen Erwartungen – der Fahrzeugmarkt gilt als gesättigt und das hat Konsequenzen für den Ausrüstungsbereich, in dem Dürr agiert. Es werden kaum noch Fertigungskapazitäten aufgebaut, die Zahl der Greenfield-Projekte ist sehr überschaubar. In den nächsten Jahren wird es eher zu Umbauten bestehender Fabriken kommen. Anders sieht es in China und Südostasien aus und wir glauben auch daran, dass Nordamerika schnell zu alter Stärke zurückkehrt. Um der verhaltenen Entwicklung in Europa gerecht zu werden, passen wir unsere Kapazitäten entsprechend an und setzen ein Effizienzprogramm um, das ab 2021 zu Einsparungen von rund 30 Millionen Euro im Automotive-Geschäft von Dürr führen soll.

Teilen Sie die Einschätzung von Analysten, dass es in Europa vier bis fünf Autowerke zu viel gibt?

Technisch mag es richtig sein, dass die installierte Basis deutlich mehr Output liefern kann, als der Markt aktuell braucht. Der Haken ist nur, dass sich das Produktionsvolumen nun einmal nicht idealtypisch über alle Werke und Hersteller verteilen lässt. Insofern hilft diese Betrachtung den einzelnen Herstellern bei ihrer Kapazitätsplanung wenig weiter.

Dürr erwirtschaftet mehr als die Hälfte des Jahresumsatzes in der Autobranche. Ganz konkret: Wie stark wirken sich die rückläufigen Produktionsvolumina der OEMs aktuell bei Ihnen aus?

Als Anlagenbauer ist Dürr im CapEx-Bereich unterwegs, unsere Umsätze resultieren meist aus den Investitionsausgaben für längerfristige Anlagegüter. Wir hängen nicht wie ein Komponentenzulieferer eins zu eins am Produktionsvolumen der Hersteller. Aber klar: In den letzten Monaten waren die OEMs sehr auf ihre Liquidität bedacht und haben Ausgaben grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt. Ich sehe diesen Ausgabenstopp aber eher temporär. In Zukunftsthemen wie Elektromobilität wird weiterhin investiert. Hersteller müssen Montagelinien und zum Teil auch ihre Lackieranlagen umrüsten, um E-Fahrzeuge in Serie produzieren zu können. Und die neuen E-Mobility-Player benötigen komplett neue Fabriken. Diese Investments sind notwendig, unabhängig davon, wie hoch die produzierte Stückzahl bei Markteinführung ist.

Die Bundesregierung will die ökonomische Abhängigkeit von China verringern und die Handelsbeziehungen neu ausrichten. Welche Bedeutung haben dieser Markt und die Region Südostasien für Dürr?

Für uns ist China seit Jahren der größte und wichtigste Markt überhaupt. Daran wird sich auch nichts ändern – wir sehen dort weiterhin gute Geschäftschancen, die wir nutzen werden. Dürr beschäftigt in China mehr als 2000 Mitarbeiter, eines unserer modernsten Entwicklungszentren steht in Schanghai. Wir sind etabliert und agieren vor Ort wie ein chinesisches Unternehmen. Eine Politik der Entflechtung zwischen China und dem Westen, wie sie derzeit mancherorts diskutiert wird, kommt für uns nicht in Frage. Im Gegenteil: Ich bin sehr froh darüber, dass wir in China so erfolgreich sind. Auch die Region Südostasien mit Ländern wie Vietnam, Thailand, Indonesien und Malaysia ist für Dürr ein seit Jahren aktiver und auch zukünftig vielversprechender Markt.

Dürr hat in diesem Jahr die „Lackieranlage der Zukunft“ vorgestellt – fahrerlose Transportsysteme bringen Karosserien in spezielle Lackierboxen. Wo sehen Sie die Vorteile gegenüber klassischen Anlagen?

Wir brechen mit diesem modularen Konzept das traditionelle Linien-Layout im Automobilbau auf. Die Grundidee ist, mit variablen, unabhängigen Boxen zu arbeiten. Das sorgt für mehr Flexibilität im Lackierprozess, weil die Bearbeitungszeit je nach Karosserie variiert. Bei einer verketteten Anlage muss sich die Taktung immer an der längsten Prozessdauer orientieren. Das auf Boxen basierte Layout hingegen ermöglicht individuelle Taktzeiten, so dass sogar unterschiedliche Applikationsumfänge und Qualitätsanforderungen für verschiedene Fahrzeugtypen realisiert werden können. Zudem sichern sich OEMs gegen Ausfälle ab – kann eine Box nicht genutzt werden, kommt deshalb nicht der gesamte Lackierprozess zum Erliegen, weil es keinen Stau, sondern Ausweichmöglichkeiten gibt.

Ein weiteres aktuelles Thema ist oversprayfreies Lackieren. Bei Audi ist die Technologie bereits im Serieneinsatz. Ziehen Sie doch mal ein erstes Fazit.

Mit dem Produkt EcoPaintJet haben wir nicht umsonst den Deutschen Innovationspreis gewonnen, es ermöglicht einen echten Quantensprung im Lackieren. Bisher waren zweifarbige Lackierungen zwingend mit zwei vollständigen Lackierdurchgängen und vorherigem Abkleben verbunden. Das hat Maschinenressourcen gebunden, manuelle Arbeitszeit, viel Material und Energie gekostet. Mit der OFA-Technologie haben wir diesen Prozess revolutioniert. Unsere Techniker haben zehn Jahre an den Details gefeilt, aber der Aufwand hat sich gelohnt. Wir sind die einzigen, die eine Karosserie in Serie mit einem eigens für dieses Verfahren entwickelten Lack millimetergenau und ohne Sprühnebel lackieren können, alles in einem Arbeitsgang.

Dürr arbeitet derzeit auch an speziellen Lackiertechniken für Elektroautos. Inwiefern unterscheidet sich der Lackierprozess von dem bei Fahrzeugen, die mit einem Verbrennungsmotor ausgestattet sind?

Grundsätzlich gibt es beim Lackieren selbst keinen Unterschied. Aufgrund der spezifischen Karosserie bei E-Autos, die auf dem Stromspeicher aufsetzt, gibt es aber häufig den Wunsch, den Höhenunterschied mit einem schwarz lackierten Dach optisch zu verringern. Da kommt das Thema OFA wieder ins Spiel. Zudem müssen wir in der Trocknungsphase auf ein homogenes Temperaturprofil achten und berücksichtigen, dass im Karosseriebau mit unterschiedlichen Materialstärken gearbeitet wird. Deshalb haben wir einen neuen Trockner entwickelt. Die Karosserie wird nicht mehr längs durch den Trockner geführt, sondern quer, und von innen aufgeheizt. Dadurch ist der Temperaturgradient gering und die Lackqualität deutlich höher.

Sie haben im vergangenen Jahr einen Umsatz von 390 Millionen Euro mit Produktionstechnik für die Elektromobilität gemacht – 44 Prozent mehr als im Vorjahr. Wird es in dieser Größenordnung weitergehen?

Ja, davon gehen wir aus, es könnte auch mehr werden. Die Produkt-Pipeline ist gut gefüllt, besonders bei Herstellern in Asien und Nordamerika. Um bis 2030 einen Großteil der Fahrzeuge mit vollelektrischem Antrieb oder als Plug-in-Version auf den Markt zu bringen, bedarf es weiterer Investitionen in die Infrastruktur – egal ob bestehende Produktionslinien umgerüstet werden oder neue Fabriken auf der grünen Wiese entstehen.

Zur Person:

Jochen Weyrauch, Dürr AG

Jochen Weyrauch, Dürr AG

1985–1990: Studium Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Universität Kaiserslautern

1990–1999: Verschiedene Positionen im Management und Mitglied der Geschäftsführung der Continental Teves AG in Frankfurt am Main

1999–2002: Promotion an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

1999–2003: Präsident und CEO der Turbo-Lufttechnik GmbH in Zweibrücken und Cleveland, Ohio (USA)

2003–2005: Mitglied des Vorstands/COO der Carl Schenck AG in Darmstadt

2006–2014: Präsident und CEO der Schenck Process Holding GmbH in Darmstadt

2014–2016: Selbstständiger Berater und Senior Partner der Endurance Capital AG in München

Seit 2017: CEO der Dürr Systems AG und Mitglied des Vorstands der Dürr AG

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