Es waren zwar nur zwölf Mitarbeiter, doch deren Aufgabe war fast schon historisch. Denn sie waren 1953 die ersten, die hier in Brasilien für VW in einem Werk im Ausland Autos gebaut haben – selbst wenn es eher eine kleine Werkstatt war und sie ihre Bauteile noch aus Deutschland geschickt bekommen haben. Das ist jetzt 71 Jahre her, von zwölf ist die Mannschaft aktuell eine Stärke von 7.149 Männern und Frauen gewachsen und die 1959 aus dieser Werkstatt entstanden Fabrik Anchieta in São Bernardo do Campo im Bundesstaat Sao Paulo ist nicht nur der mit Abstand größte von vier VW-Standorten in Brasilien und nach Wolfsburg die Nummer 2 im globalen Netzwerk der Niedersachsen - auch im Markenvergleich gibt es in Brasilien kein größeres Automobilwerk.
VW möchte in Brasilien wachsen
Und sie wird bald noch größer. Denn während VW in Deutschland gerade mit der Diskussion um Werksschließungen in den Schlagzeilen ist, es in den USA – mal wieder - nicht so recht voran gehen will und der Thron in China längst erodiert ist, wollen die Niedersachsen in Brasilien kräftig wachsen. Nachdem sie dort bereits über 25 Millionen Autos gebaut und allein im letzten Jahr knapp 350.000 Fahrzeuge verkauft haben, sollen die rund 500 Händler künftig noch viel mehr Polo, Saveiro und Amarok auf die Straßen von Rio oder Sao Paulo bringen. 40 Prozent Wachstum hat VW-Chef Thomas Schäfer bis 2027 angekündigt, als er 2023 zur 70-Jahr-Feier nach Ancheita geflogen ist. Dafür will er tief in die Tasche greifen: Schon bei seinem Besuch hatte er Investitionen von einer Milliarde Euro in Aussicht gestellt und den Betrag mittlerweile auf drei Milliarden erhöht, die bis 2028 fließen sollen. „Als schnell wachsender Markt ist Südamerika für uns von großer strategischer Bedeutung“, sagt Schäfer und Brasilien nimmt für ihn auf dem Kontinent wegen seiner Wirtschaftskraft eine Schlüsselrolle ein – und weil es früher noch mehr als etwa China oder die USA für VW so etwas wie eine zweite Heimat war.
Weil das Investment vor allem neue Modelle bringen soll, entfallen knapp drei Viertel der Investitionen in die die drei Werke im Bundesstaat Sao Paulo, präzisiert Werkssprecherin Cristie Buchdi. In Anchieta als größtem Werk wird dann wohl das meiste ankommen. Platz gibt es dafür reichlich. Das über mehrere Plateaus verteilte Areal hat rund 1,6 Millionen Quadratmeter und die hohen Hallen auf dem mit Palmen bestanden Gelände umschließen mit 960.000 Quadratmetern nur knapp zwei Drittel davon. In diesen Hallen baut VW derzeit die vier Modelle Saveiro, Polo GTS, New Virtus, New Nivus. Dafür unterhalten die Niedersachsen am Standort Presswerke, Lackiererei und Endmontage, nur die Motoren und Getriebe liefert das Werk in São Carlos zu und ist damit der wichtigste von rund 3.000 Zulieferern, die für den nötigen Nachschub in den brasilianischen VW-Werken sorgen.
Lange nicht so dramatisch wie in Deutschland, kämpft VW aktuell aber auch in Brasilien mit Kaufzurückhaltung und fährt in Anchieta deshalb mit angezogener Handbremse. Statt in drei arbeitet das Werk deshalb derzeit nur in zwei Schichten von je 8 Stunden und 11 Minuten, in denen dann jeweils 819 Autos vom Band laufen.
Volkswagen setzt in Brasilien auf Nachhaltigkeit
Zwar stehen die großen Investitionen erst noch an. Doch hat VW bereits in den letzten Jahren viel Geld in sein brasilianisches Stammwerk gesteckt und damit vor allem den CO2-Ausstoß der Produktion gedrückt. So gehört Anchieta neben der VW-Fabrik in Taubaté zu den ersten brasilianischen Autowerken, die einen Teil ihres Energiebedarfs mit Biomethan decken. Dieses Jahr werden die beiden Standorte rund 1,4 Millionen Kubikmeter beziehen und ab 2027 dann über acht Millionen, von denen 6,6 Millionen in Anchieta ankommen. Das Gros des Gases wird für die energieintensive Lackiererei gebraucht, deren CO2-Ausstoß damit um bis zu 99 Prozent sinken soll. Auch der Strom ist grün, sagt Werkssprecherin Cristie Buchdid: “Alle unsere Fabriken nutzen zu 100 Prozent Energie aus erneuerbaren Quellen“. Was leicht fällt in einem Land, in dem Wasserkraft den mit weiten Abstand größten Anteil am Energiemix hat.
Entwicklung in Brasilien muss spezielle Herausforderungen adressieren
Zwar ist Anchieta das größte Autowerk im Land. Aber VW baut hier nicht nur seine Bestseller und präsentiert in einem kleinen aber feinen Museum die imposante Geschichte und Modellvielfalt der letzten 70 Jahre. Sondern die Niedersachsen unterhalten in São Bernardo do Campo auch ein eigenes Enzwicklungszentrum samt Designstudio, Prüfstanden und Crashhalle. Während sich auf den riesigen Parkplätzen draußen deshalb die erst getarnten und dann oft bis zur Unkenntlichkeit verbogenen Prototypen aneinander reihen, untersuchen sie drinnen unter allen klimatischen Bedingungen die Laufruhe und das Abgasverhalten ihrer Verbrenner, die in Basilien mit einem in nahezu jedem Verhältnis variablen Gemisch von Benzin und Ethanol aus Zuckerrohr laufen müssen. Sie martern neue Modelle nicht nur auf ihrem Testgelände, sondern quälen Achsen, Federn und Dämpfer auf virtuellen Rüttelstrecken. Und immer wieder parken sie neue Modelle in der künstlichen UV-Sonne eines Glutofens, in dem Kunststoffkonsolen schon mal blasen werfen oder einfach zerbröseln, wenn sie nicht den Qualitätsstandards entsprechen.
Natürlich denkt Entwicklungschef Andre Drigo dabei vor allem an die lokalen Anforderungen, die sich von denen in Europa bisweilen deutlich unterscheiden. Doch immer wieder schielt er auch mal über den Tellerrand- und prägt mit seiner Arbeit sogar das Straßenbild an unserem Ende der Welt. Schließlich wird Drigos im Jahr 2000 präsentierts SUV-Coupé Nivus seit Herbst 2021 bei uns auch als Taigo verkauft. Allerdings weiß Drigo, wo seine Prioritäten liegen. Denn während wir noch mit dem alten Modell vorlieb nehmen müssen, rollt in Anchieta für den lokalen Markt jetzt gerade das Facelift vom Band.