McLaren, gerade erst sieben Jahre alter Sportwagenhersteller aus dem britischen Woking, hat eine beeindruckende Flugkurve hingelegt. Derart steil ist wohl noch nie eine Marke in den Sportwagenthron aufgestiegen. Wer weltweit an die besten Straßenrenner denkt, kommt an einem McLaren, einst kaum mehr als technischer Steigbügelhalter für Marken wie BMW (F1) oder Mercedes (SLR), nicht vorbei. So verwundert es nicht, dass der neue McLaren 720S bereits vor seinem Marktstart als Messgröße für einen Sportwagenwagen gesehen wurde. Seit der Weltpremiere auf dem Genfer Salon Anfang März wurde bereits mehr als 1.500 Fahrzeuge verkauft - ohne, dass ein Kunde nur einen gefahren war. Davon können andere Hersteller nur träumen.
So viel vorweg: die zukünftigen Kunden des 720ers werden alles andere als enttäuscht sein, denn was das Entwicklungsteam rund um Ben Gulliver aus dem neuen Super-Series-Topmodell herausgeholt hat, ist allemal beeindruckend. „Wir haben 91 Prozent des Fahrzeugs komplett neu entwickelt“, sagt Gulliver, „und über 40 Prozent des Motors sind neu; unter anderem die Turbolader, die jetzt schneller ansprechen.“ Das Herz eines Sportlers ist sein Motor und hier wurde kräftig draufgesattelt. Statt der bisherigen 3,8 Liter Hubraum wurde das doppelt aufgeladene V8-Kraftpaket auf vier Liter Hubraum erweitert. Im Vergleich zum bisherigen 650S gab es einen Leistungsnachschlag auf 530 kW / 720 PS und einen Drehmomentsprung auf 770 Nm bei 5.500 U/min. Wie viel Dynamik das am Alcantara-Steuer ist, zeigt nicht nur der Imagespurt von 0 auf 100 km/h in 2,9 Sekunden oder der noch imposantere von 0 auf Tempo in 7,8 Sekunden. Der größte Unterschied ist das deutlich bessere Ansprechverhalten, denn ein Turbomotor beißt bauartbedingt nicht so unvermittelt zu wie ein Saugtriebwerk.
Beim McLaren 720S ist der Unterschied zwischen Saug- und Turbomotor aufgrund der Verzögerung der Kraftentfaltung kaum mehr spürbar und wenn die beiden Beatmungen einmal zugebissen haben, gibt es sowieso kein Entrinnen mehr. Dabei ist das Doppelkupplungsgetriebe aus dem Hause Graziano gut, aber nicht derart beindruckend, wie es sein könnte. Hier arbeiten Systeme in Ferrari, BMW, Porsche oder Lamborghini insbesondere im Komfortbereich besser, wenn die einzelnen Gänge nicht unter voller Drehzahl in die nächste Stufe geprügelt werden. Doch was für 650S oder 675LT galt, ist auch eine Paradedisziplin des neuesten McLaren 720S. Er ist angesichts seiner spektakulären Leistungsdaten, bis zu 341 km/h Höchstgeschwindigkeit und spektakulärer Verzögerungswerte ein Supersportler; aber einer, mit dem man tatsächlich jeden Tag ins Büro fahren kann. Das liegt nur nebensächlich an dem Liftsystem der Vorderachse, das einem die Zufahrt in unwegsame Garagen oder über Verkehrshindernisse ermöglicht und es ist auch nicht die deutlich bessere Rundumsicht, die der 720er im Vergleich zu seinem Vorgänger bietet. Mit den kuppelartig ausgeführten Glaselementen an hinteren Säulen, Rückscheibe und Türen haben es die Briten etwas zu gut mit der Sonneneinstrahlung gemeint. So viel Glas braucht in Zeiten von Kameras rundherum nach hinten keiner und die beiden gläsernen Dachfenster nerven mehr als sie bringen. Gut, dass diese nur auf Wunsch in „Gorillaglas“ angeführt werden.
„Uns war die Arbeit an der perfekten Aerodynamik besonders wichtig“, so Produktmanager Ian Howshall, „wir haben hier 2013 mit dem 650S angefangen und konnte uns hier deutlich verbessern. Wir haben nun 30 Prozent mehr Anpressdruck.“ Kein Wunder, dass jede Runde auf der Rennstrecke zu einem wahren Lustgefühl ausartet. Noch spektakulärer als die atemberaubende Beschleunigung bleibt das stoisch ruhige Einlenkverhalten und eine Bremse, die keine Verzögerungsgrenzen zu kennen scheint. So werden nicht nur die vier Räder über mächtige Karbon-Keramikscheiben verzögert, sondern bei einem Tritt auf die Bremse reckt sich auch der Heckspoiler steil in die Höhe und sorgt für Ruhe in der Karosserie. Aus Tempo 100 steht der Renner in knapp 30 Metern und selbst aus Tempo 200 fällt der Anker bei 117 Metern.
Der mindestens 247.250 Euro teure McLaren überzeugt keinesfalls nur auf der Rennstrecke mit seinem grandiosen Einlenkverhalten, dem phantastisch drehfreudigen V8-Doppelturbo oder der Leichtigkeit, mit der der gut 1,4 Tonnen schwere Brite die opulente Motorleistung auf den Asphalt bannt. Trotz der steifen Karbonkarosserie und der zahllosen Aerodynamikmaßnahmen, die ihn bei höheren Tempi souveräner denn je machen, verzückt die Leichtigkeit, mit der es durch die Stadt oder eben über Verbindungs- und Landstraßen geht. Natürlich macht die Schar der Zuschauer am Straßenrand auch dann große Augen, wenn der optionale Sportauspuff nicht verbaut und die Koloration dezenter als die Sonderlackierung „Azores“ für und 4.000 Euro ist. Trotzdem ist der McLaren 720S nichts für einen unscheinbaren Auftritt in der zweiten Reihe. Aber gerade der, der sich eben bewusst gegen Schalensitze, Sportauspuff oder die sichtbare Karbonstruktur entscheidet, genießt es auf der Rennstrecke rasen zu können und sein Shirt auf dem Weg ins Büro nicht zwangsläufig durchschwitzen zu müssen.
Trotzdem hat McLaren nicht alles richtiggemacht. Das animierte Cockpit könnte aus einem echten Rennwagen stammen, doch der Modus, der es ähnlich einem Scooter einklappt und die Informationen minimiert, erscheint mehr als überflüssig. Stattdessen wäre eine Überarbeitung der Mittelkonsole schick und praktisch zugleich gewesen. Die Bedienung der einzelnen Drehschalter für Motor und Fahrwerk erscheint umständlich und der Hochkant-Multifunktionsbildschirm für Navigation, Soundsystem und weitere Systeme hat manche Tücke. Mäßig ablesen lässt sich das Ganze bei Sonneneinstrahlung sowieso.