AUTOMOBIL PRODUKTION: Herr Dr. Waltl, auf dem Wegweiser in die Zukunft der Produktion bei Audi steht nicht der gängige Begriff “Industrie 4.0″, sondern “Smart Factory”. Warum?
Mit dem Begriff Smart Factory sehen wir unser Ziel treffender definiert. Das englische Wort “smart” steht schließlich für klug, intelligent, pfiffig. Bei Audi sind wir schon seit zehn oder zwölf Jahren dabei, uns über die Möglichkeiten “schlauerer” Prozesse und einer intelligenten Vernetzung von Fabriken Gedanken zu machen.
Das ist ein evolutionärer Prozess, der nicht von heute auf morgen passiert, sondern durch nachhaltiges Wachstum bestimmt ist und durch den Anspruch, sich ständig zu hinterfragen und Bestehendes zu optimieren. Dabei denke ich zum Beispiel an verbesserte Arbeitsbedingungen für unsere Mitarbeiter ebenso wie an die Ersparnis von Zeit und Kosten durch intelligente Vernetzung von Fabriken und Nutzung von Daten.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Mit welchen Ergebnissen?
Bereits vor einem Jahrzehnt haben wir ein Presswerkzeug entwickelt, das mitdenkt und aktiv in den Pressvorgang eingreift. Seit fünf Jahren ist es jetzt Realität. Sensoren und mechatronische Aktoren in der Presse sorgen dafür, dass das Blech abhängig von seiner Beölung individuell eingezogen wird. Dieses intelligente Werkzeug lotet die physikalischen Grenzen des Umformprozesses besser aus. Sie sind in der Lage, die hohen Presskräfte exakt zu verteilen, um Blechteile auf hundertstel Millimeter genau zu pressen. Ergebnisse sind höhere Teilequalität und weniger Ausschuss. Gleichzeitig sparen Sie Material und unterstützen dadurch eine nachhaltige Produktion. Man könnte sagen, wir haben aus einem bisher rein mechanischen Werkzeug ein “Merkzeug” gemacht.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Wieviel Smart Factory steckt heute schon im Audi-Produktionsnetzwerk und woran kann man das festmachen?
Wir nutzen jedes Werk, um bestimmte Themen voranzutreiben. Dies geschieht aber nicht zwingend unter der Prämisse von Smart Factory. Denn prinzipiell hat jeder unserer Standorte seine Leuchtturm-Projekte. Am Standort Neckarsulm etwa läuft der Heckklappen-Einbau automatisiert ab, die Kabelbäume für die Audi A6-Reihe werden mit fahrerlosen Transportsystemen ans Band geliefert und mit Einführung der elektronischen Wagenbegleitkarte in Ingolstadt sind wir in der Lage, in Echtzeit den Status eines jeden Automobils abzufragen. Unser Standort Györ in Ungarn erprobt den Einsatz von RFID-Transpondern zur Effizienzsteigerung der logistischen Abläufe.
Mit der RFID-Technologie, also Radio Frequency Identification, können Daten ohne Berührung oder Sichtkontakt ausgelesen werden, was eine enorme Zeitersparnis bedeutet. Außerdem übernimmt Györ aktuell eine Leuchtturm-Rolle bei der Weiterentwicklung in der Motoreneffizienz. Wenn die Ergebnisse solcher Projekte Serienreife erlangt haben, werden sie auf die anderen Standorte übertragen. Auch in Mexiko werden wir von dieser Systematik profitieren.
Zur Person Dr. Hubert Waltl (Jahrgang 1958) ist seit 01.04.2014 Vorstand Produktion der Audi AG und zeichnete seit Oktober 2009 auf Vorstandsebene für Produktion und Logistik der Marke Volkswagen Pkw verantwortlich. Der bekennende Bayer ist Produktionstechniker mit Leib und Seele und kennt die Anforderungen und Problemstellungen der Automobil-Fertigungswelt auch aus der Perspektive des Praktikers. Er begann sein Berufsleben mit einer Grundausbildung zum Werkzeugmechaniker (Tätigkeit ab 1976 als Schnittmacher im Werkzeugbau bei Audi) und Weiterbildung zum staatlich geprüften Maschinenbau-Techniker. Es folgten ab 1994 verschiedene Leitungsfunktionen innerhalb des Audi-Werkzeugbaus sowie in der Produktionsplanung an den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm. Berufsbegleitend absolvierte Waltl ein Studium der Produktionstechnik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden. Ab 2002 übernahm er die Verantwortung für den gesamten Audi-Werkzeugbau, ab 2007 zusätzlich die Konzernwerkzeugbauten sowie die Karosserieplanung und den Werkzeugbau der Marke Volkswagen Pkw. Waltl ist seit 2013 Ehrendoktor der Fakultät für Maschinenbau der TU Chemnitz (Dr.-Ing.) und wurde im Februar 2015 von der Technischen Universität Chemnitz zum Honorarprofessor für Werkzeugbau in der Automobilproduktion an der Fakultät für Maschinenbau ernannt. |
AUTOMOBIL PRODUKTION: Was müssen Ihre Zulieferer tun, um den Audi-Weg zur Smart Factory mitgehen zu können?
Damit setzen wir uns in verschiedenen Pilotprojekten auseinander, in die wir Zulieferer einbinden. Das reicht von der Mensch-Roboter-Kooperation über die Pressentechnologie bis hin zu Aufgabenstellungen im Entsorgungsbereich.
AUTOMOBIL PRODUKTION: In Györ fertigt Audi Verbrennungsmotoren. Effizienter Motorenbau braucht ja ganz stark den Austausch mit den Lieferanten von Werkzeugmaschinen und Bearbeitungszentren. Stehen da neue Investitionen an, um die Produktion auf Smart-Factory-Level anzuheben?
Wir werden im Rahmen unserer aktuellen Investitionsplanung neue Anlagen beschaffen, die neue Standards erfüllen. Wir werden auch die heutigen Maschinen entsprechend hochrüsten. Aber es gibt kein eigenes Budget für Smart Factory, sondern wir überlegen mit jedem Schritt, was ist wann sinnvoll, was müssen wir dafür ausgeben und was bekommen wir zurück?
Unser Ansatz besteht darin, erst auszuloten, was aus heutigen Anlagen und Steuerungen herauszuholen ist und wie man sie optimieren kann.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Audi ist Partner des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU beim Projekt E3-Forschungsfabrik, das sich mit der Zukunft der industriellen Produktion in Deutschland und insbesondere auch zukunftsfähigen Technologien für den Automobilbau auseinandersetzt. Gibt es bereits Ergebnisse aus der Kooperation mit Fraunhofer, von denen Sie schon profitieren?
In der Fraunhofer-Gesellschaft konzentriert sich breites und fundiertes Wissen. Die Zusammenarbeit mit Audi ist sehr ergiebig und erstreckt sich darüber hinaus auf den gesamten Volkswagen-Konzern. Ein sehr gutes, substanzielles Ergebnis war für Audi zum Beispiel das erwähnte intelligente Presswerkzeug – ein Erfolg der guten Zusammenarbeit. In den Böllinger Höfen am Standort Neckarsulm findet sich mit der modular strukturierten Fertigung des Audi R8 ein weiteres Ergebnis aus der Zusammenarbeit mit Fraunhofer. Die fertigen Karosserien werden nicht mehr auf einem Fließband weiter getaktet, sondern bewegen sich auf selbstfahrenden Montage-Skids durch die Halle. Das bringt ein Plus an Flexibilität. Derivate wie der Audi R8 Spyder laufen RFID-gesteuert ihre Spezialstationen an – also beispielsweise die Stoffdach-Montage.
In der Automobilindustrie ist der kundenorientierte Trend zu Vielfalt und zur Individualisierung ungebrochen. Deshalb brauchen wir eine prozessübergreifende Vernetzung zwischen Logistik, Produktion und Vertrieb. Das Ziel selbststeuernder Anlieferungsprozesse muss eine verfeinerte Just-in-Time Logistik, müssen verfeinerte Teileabrufe sein. Zulieferer werden sich natürlich in diese Logistiksysteme einfügen müssen, werden aber gleichzeitig von präziseren Bestell- und Lieferinformationen profitieren. Die Technologien, die wir dafür entwickeln, lassen sich letztendlich auf unsere Partner aus dem Mittelstand übertragen.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Bleiben wir kurz bei der spezifischen Audi-Logistik: Was bedeutet “Quick Check-In”?
Quick Check-In ist eine speziell für Audi entwickelte App auf dem Smartphone des Fernfahrers, die sich automatisch mit dem IT-System von Audi in Verbindung setzt und im Werk anmeldet. Sie bedient sich der Geofencing-Technik und sendet aktuelle GPS-Daten sowie Informationen zur Ladung selbständig an die Lkw-Leitstelle im Audi-Logistikzentrum Ingolstadt. Im Falle von Verzögerungen in der Anlieferung, verursacht beispielsweise durch einen Stau, können bereits vor Ort befindliche Lkw automatisch vorgezogen und abgefertigt werden. Das System erlaubt uns noch exaktere Just-in-Time-Lieferungen in einem für den Produktionsablauf optimalen Zeitfenster.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Steigen wir mal in die Zeitmaschine und reisen ins Jahr 2035: Was sind dann die Hauptmerkmale der Produktion bei Audi? Stehen die Fließbänder dann im Deutschen Museum?
Das wird das Gebot der Wirtschaftlichkeit entscheiden, das auch letztlich vor 100 Jahren zur Etablierung des tayloristischen Systems geführt hat. Das heißt, dass wir das Fließband so lange nutzen werden, wie es im Einzelfall wirtschaftlich ist.
Aber langfristig wird es selbst mit besten logistischen Systemen nicht mehr möglich sein, die Vielfalt individueller Kundenwünsche im tayloristischen System zu befriedigen. Da braucht es ganz andere Arbeitsorganisationen und auch Kreativität. Stellen Sie sich zum Beispiel maßgefertigte Sitze vor, die nach vorherigem Laserscanning des Kunden eigens für ihn angefertigt werden. Das ist Produktion im Faktor 1, das Maximum an Individualität.
Betrachten wir den Audi R8: Allein schon die Komplexität und Individualität schließt eine Fließbandfertigung aus. Die Mitarbeiter müssen mehr Arbeitsinhalte beherrschen und außerdem sehr gut und komplex denken können.
Die Zukunft der Audi-Produktion könnte auch so aussehen: Karosseriebauteile kommen passgenau aus dem 3D-Drucker. Fahrerlose Transportsysteme bewegen Automobile unterschiedlicher Baureihen frei von Station zu Station zu einer beliebigen nächsten Montagestufe, anstatt im engen und in der Abfolge festgelegten Zeittakt. Vernetzte Maschinen organisieren sich selbst, Maschinenwartungen erfolgen ausschließlich bedarfsorientiert, Verschleißteile werden stets am Optimum ihrer Nutzung ersetzt. Drohnen übernehmen die Versorgung mit eiligen Bau- oder Ersatzteilen. Roboter, die dem Mitarbeiter assistieren wissen, was dieser als nächstes von ihnen benötigt. Autos fahren völlig autonom vom Band, aus der Halle und zum Auslieferungszug.
Das ist unsere Vision einer Smart Factory. In ihr sind Daten der zentrale Produktionsfaktor und so wertvoll wie einst Erdöl oder Gold. Programmiercodes haben sich zur wichtigsten Fremdsprache in der Produktion entwickelt.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Nur noch Daten als Basis der Wertschöpfung? Wo bleibt der Faktor Mensch?
Je gezielter wir Daten erfassen und je intelligenter wir sie für uns auswerten, desto effektiver können wir unsere Prozesse aufbauen. Desto weniger Vorräte müssen wir irgendwo anlegen, desto schneller können wir Produktionsprogramme umstellen und so fort. Das betrifft sowohl Daten, die in Form von Software und Systemen verfügbar sind, aber es betrifft auch Daten, Ideen, die unseren kreativen Köpfen entspringen. Man braucht sie mehr denn je, um den Wettbewerb anführen zu können.
Die Fabriken der Zukunft werden keineswegs menschenleer sein. Sie werden sich der neuen Situation anpassen. Arbeitsabläufe werden – nicht zuletzt durch Roboterunterstützung – ergonomischer und Arbeitsinhalte werden anspruchsvoller. Da geht es um Programmierkenntnisse und den sicheren Umgang mit Computern oder Tablets. Künftig wird der Meister nicht derjenige sein, der der beste Handwerker ist, sondern der, der genau weiß, mit welchen Daten er welchen Prozess steuern muss. Die Smart Factory formuliert neue, sehr IT-getriebene Anforderungen an das Qualifikationsprofil von Fachkräften.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Kann man vor diesem Hintergrund jungen Leuten heute noch raten, beispielsweise Werkzeugmechaniker zu werden?
Ja, weil der “neue” Werkzeugmechaniker auch mit Sensorik, Steuerungselementen, Elektronik und der IT-Welt vertraut sein muss. Wir bilden heute sehr viele Mechatroniker aus. Sie brauchen nach wie vor die mechanische Welt. Wir brauchen nach wie vor Werkzeugmacher, die in der Lage sind, das Design in Formen umzusetzen, aus denen dann hoch präzise Blech- oder Kunststoffteile herauskommen. Pioniergeist und der ständige Hunger auf neue Technologien sind heute wichtiger denn je.
AUTOMOBIL PRODUKTION: Was muss bei der Handhabung von produktionsrelevanten Daten noch verbessert werden?
Zu den Optimierungsthemen zählen Übertragungsgeschwindigkeiten, Speicherung und Sicherheit. Wir diskutieren sehr intensiv die Anforderungen an Prozessoren, die benötigte Schnelligkeit von Rechnern und die Größe von Speichern. Im Tagesgeschäft erzeugen wir sehr viele Daten. Da gilt es, sich gründlich zu überlegen, was man wie lange überhaupt speichern muss. Nach dem Fräsen von Bauteilen beispielsweise löschen wir die NC-Daten, weil es effizienter ist, im Bedarfsfall nochmal einen neuen Datensatz zu generieren als den ursprünglichen Datensatz ewig aufzubewahren. Wir müssen das auch unter Kostenaspekten betrachten. Maßnahmen zur Datensicherheit werden zunehmend wichtiger, das sind Top-Themen für unsere Konzern-IT. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass man Daten künftig nur in eine Cloud schicken wird, und jeder arbeitet aus der Cloud heraus. Das ist einfach aus sicherheitsrelevanten Gründen problematisch.
Das Interview führte Christian Klein