Kategorie Digital Mindset

„Citizen Developers" bescheren Martorell den Lean-Award

Hinter der Auszeichnung steht nicht nur ein kluges Set neuer Anwendungen. Es ist ein Kulturbeweis. Seats Stammwerk hat verinnerlicht, dass konsequente Prozessverbesserung und digitale Befähigung zusammengehören. Alle Details.

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José Arreche auf der Bühne des ALP-Kongresses in Poznan.

Beim „magischen Dreieck" denken Fußballfans mittleren Alters vermutlich zunächst an Balakov, Bobic und Elber beim VfB Stuttgart in den 90er-Jahren. Für Produktioner besteht es natürlich aus den Schlagworten Qualität, Kosten und Zeit. Hiermit muss sich ein jeder Werkleiter herumschlagen. Einer, der es seit geraumer Zeit besonders erfolgreich meistert, ist José Arreche. Der Spanier nahm auf der Bühne des Automotive Lean Production-Kongress in Poznan den Award in der Kategorie „Digital Mindset“ entgegen.

Der Zeitpunkt der Ehrung fällt in eine Phase hoher Erwartungen. Martorell trägt künftig die Verantwortung für entscheidende Bausteine der elektrischen Einstiegsmodelle im Konzern. Der Raval von Cupra eröffnet die Reihe. An seiner Seite steht der VW ID. Polo, der aus der ID.2all‑Ankündigung zur neu positionierten Kleinwagen‑Ikone werden soll . Das Projekt zielt auf bezahlbare Elektromobilität und verlangt nach einer Fabrik, die flexibel und kostenbewusst arbeitet, ohne Abstriche bei Qualität und Anlaufstabilität.

Ein Werk mit klarer Richtung

Die Jury hebt hervor, wie Martorell digitale Lücken aus eigener Kraft schließt. Wo zentrale IT‑Systeme noch keine Lösung bieten, entstehen No‑ und Low‑Code‑Anwendungen aus den Teams heraus. Sogenannte „Citizen Developers“ verbinden Fertigungserfahrung mit Datenkompetenz. Jede App wird auf eingesparte Stunden gemessen. Die durchschnittliche Amortisationszeit sei niedrig, die Wirkung im Alltag hoch. Ein prägnantes Beispiel ist die modular aufgebaute „Lego‑Bibliothek“ für die Werkssimulation. Sie erlaubt es Fertigung und Logistik, Prozessvarianten selbst zu modellieren, zu prüfen und zu verbessern. 

Entscheidungen müssen nicht warten, bis ein Großprojekt startet. Sie fallen dort, wo der Takt läuft. Daraus ist ein Arbeitsstil entstanden, der Daten nicht hortet, sondern verteilt. Self‑Service‑Dashboards gehören zum Shopfloor‑Alltag. Kontinuierliche Verbesserung geschieht in digitalen Workshops in Echtzeit. Eine „Lean 360°“-Roadmap verknüpft Erkenntnisse mit handfesten Umsetzungs‑Sprints. Auf diese Weise bleiben Verbesserungen nicht abstrakt. Sie werden planbar, messbar und wiederholbar.

Von der Idee in die Serie

Besonders sichtbar wird der Ansatz in den frühen Phasen eines Programms. Produktionsexperten speisen ihre Anforderungen in eine gemeinsame DMU‑ und Konzeptprüfungs‑App ein. Das erzeugt einen realistischen Spiegel für die Konstruktionsschleifen. Ein digitaler Zwilling bildet anschließend die Infrastrukturen des Werks ab. Pressen, Roboter, Lacktunnel und Montageszenarien lassen sich so virtuell validieren. Die Zuverlässigkeit dieser Validierungen reduziert den Bedarf an physischen Prototypen. Die Inbetriebnahme wandert zeitlich nach vorn und schrumpft von früher mehreren Wochen auf ein Wochenende. Für Teams bedeutet das weniger Leerlauf und weniger Risiko, dass Störungen erst in der heißen Phase auftreten. In der Serie bleiben die Daten am Werk. Werker‑Assistenz führt Schritt für Schritt durch komplexe Abläufe und sorgt für reproduzierbare Qualität. Instandhaltungs‑Apps nutzen Muster in Maschinendaten, um Ausfälle vorherzusehen. Stillstände werden seltener, Anlagennutzung steigt. Das Ergebnis ist ein ruhigerer Takt und ein Plan, der hält.

Der industrielle Unterbau zählt

Doch Digitalisierung allein baut keine Autos. Martorell investiert sichtbar in Technik, die zur elektrischen Zukunft passt. Der vollelektrische KTL‑Trockner verteilt Wärme von innen und außen. Das sorgt für gleichmäßige Ergebnisse bei stabileren Elektro‑Karosserien. Pro Stunde laufen rund 42 Rohkarossen durch, die Tagesleistung der Lacktrocknung steigt in Summe spürbar. Die Investition liegt bei 27 Millionen Euro. Der Effekt ist ökologisch und prozessual: weniger Energieverluste, definierte Temperaturen und eine kompakte Fahrzeuganordnung. Nach der Lackierung prüft KI die Oberflächen und erkennt kleinste Defekte. Robotik poliert und schleift exakt dosiert. Das System hält Mengen und Drehzahlen konstant und nähert sich damit der Idealbedingung einer immer gleichen Qualität. Zusammen mit virtueller Planung und engmaschiger Messrobotik im Karosseriebau entsteht das Bild einer Fabrik, die Abweichungen früh sieht und korrigiert.

Parallel wächst der neue Bereich für die Batteriemontage. Die Halle ist großzügig dimensioniert und auf kurze Wege ausgelegt. Eine Brücke wird die Montage mit der Fahrzeugproduktion verbinden. Strom kommt von der Dachfläche. Regenwasser dient als Kühlreserve. Die Hallensegmente sind so geplant, dass Sicherheit und Logistik sich nicht in die Quere kommen.

Verantwortung, die über ein Werk hinausreicht

Martorell ist nicht irgendein Standort. Es ist das Zentrum der Fahrzeugproduktion von Seat und Cupra. Über Jahrzehnte sind dort mehr als zwölf Millionen Fahrzeuge von 45 Modellen entstanden. Der Standort bleibt das Herzstück der Marke. Die Ausrichtung auf die elektrische Einstiegsklasse erhöht seine strategische Bedeutung nun jedoch noch einmal deutlich. Die neue Konzernordnung stärkt diese Rolle: Volkswagen ordnet die Produktion regional. Auf der Iberischen Halbinsel werden markenübergreifende Aufgaben wie Planung, Produktsteuerung, Anlaufmanagement und Logistik künftig koordiniert geführt. Das Ziel lautet, Synergien heben, Schnittstellen glätten und Zeitverluste vermeiden. Die Verantwortung übernimmt André Kleb als Chief Production Officer für Spanien und Portugal. Damit erhält Martorell zusätzliche Rückendeckung bei Programmen, die parallel anlaufen und gegenseitig voneinander abhängen.

Führung in unruhigen Zeiten

Für die Belegschaft dürfte so spürbar sein, dass viel auf dem Spiel steht. Die künftigen Modelle müssen preislich überzeugen und zugleich in Qualität und Termintreue Maßstäbe halten. Dass der Druck nicht nach außen dringt, liegt auch an der Art, wie José Arreche das Werk führt. Er steht für eine ruhige, zugewandte Kommunikation und für klare Botschaften zur elektrischen Zukunft. In Gesprächen mit Automobil Produktion positioniert er Martorell als Leitwerk für die kommende Kleinwagen‑Generation und setzt auf Weiterbildung als Scharnier der Transformation. Das passt zur Ausstrahlung, die er im Werk pflegt: freundlich auftreten, präzise entscheiden, Komplexität entlasten.

Die Personalentscheidungen im Konzern wirken wie ein zusätzliches Sicherheitsnetz. Wenn regionale Verantwortlichkeiten wachsen und Schnittstellen zentral orchestriert werden, steigen die Chancen, kritische Ressourcen rechtzeitig zuzuweisen und Anläufe stabil zu halten. Für ein Werk, das parallel bestehende Modelle produziert und neue Programme vorbereitet, ist das mehr als ein Organigramm. Es ist operative Rückendeckung.

2026 steht die Feuertaufe an

Die nächsten Schritte werden anspruchsvoll. Ein elektrischer Kleinwagen lebt von Preis, Verfügbarkeit und Alltagstauglichkeit. Doch ein unvorhersehbarer Punkt wird bleiben: Die Frage, wie schnell sich der Markt für kompakte Stromer belebt und welche Ausstattungskonzepte bei den Kunden ankommen. Darauf hat eine Fabrik nur begrenzten Einfluss. Sie kann jedoch die eigenen Aufwände senken, die Taktstabilität erhöhen und Reklamationsschleifen vermeiden. Genau das tut Martorell. Die Award‑Jury hat erkannt, dass sich hier nicht nur eine Technologie, sondern eine Arbeitsweise etabliert hat. Mit dem Raval und dem ID. Polo entscheidet sich in den nächsten Monaten, ob aus der klugen Methode ein belastbarer Wettbewerbsvorteil wird. Die Voraussetzungen sind vorhanden. Die Rückendeckung im Konzern ist organisiert. Jetzt beginnt die Serienprüfung.