
Die Autoindustrie produziert in der Ukraine unter Extrembedingungen. (Bild: Adobe Stock / Kim, den-belitsky)
Der Krieg in der Ukraine ist schon seit längst gefährlich nahe an die EU herangerückt. Denn die Auseinandersetzungen betreffen nicht mehr nur den östlichen Teil des Landes, wo Russland schon vor mehr als zehn Jahren einmarschiert ist, sondern auch den Westen, der direkt an Polen grenzt – dem größten östlichen EU-Markt. Hier befinden sich die Region Transkarpatien und das Industriezentrum Lwiw. Der Nürnberger Autozulieferer Leoni stellt an diesem Standort in Stryi und in Kolomyia in zwei Fabriken Kabelbäume her. Die Werke beschäftigen insgesamt 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören schon seit 22 beziehungsweise sieben Jahren zum Konzern.
Und nun ist die Westukraine stark unter Beschuss gekommen. „In der Nacht zum 1. Juni startete Russland seinen ersten massiven Sommerangriff auf die Ukraine“, berichtete der ukrainische Dienst der BBC von russischen Bombenflugzeugen, die eine besonders große Reichweite haben: „Zum ersten Mal seit einem Jahr erreichten die Raketen Transkarpatien, und Lwiw selbst, und auch das nahe gelegene Stryi wurden getroffen“, erklärten die Journalisten.
So laufen die Werke von Leoni in der Ukraine
„Die Produktion in unseren beiden ukrainischen Werken Stryi und Kolomyia läuft stabil“, sagte hingegen Leoni-Sprecher Gregor le Claire auf Anfrage von Automobil Produktion. Die Herstellung sei bis auf eine kurze Zeit von ein paar Wochen nach unmittelbarem Ausbruch des Krieges nie richtig unterbrochen worden. „Was unsere Beschäftigten dort vor Ort jeden Tag leisten, ist einfach herausragend und verdient größten Respekt“, fügte er hinzu.
Damit versucht der deutsche Konzern mit vorsichtigem Optimismus die schwierige Lage vor Ort unter Kontrolle zu halten. Die ukrainische Regierung und Deutschland gehen sogar noch einen Schritt weiter und werben zusammen mit anderen Partnern offensiv für neue Investitionen für den Wiederaufbau. Auf einer gemeinsamen Sonder-Konferenz in Berlin Mitte Juni präsentierten sie unter anderem die strategische „Wiederstands-Allianz kleiner und mittlerer Unternehmen“. Diese sieht insgesamt sieben Milliarden Euro für Projekte dieser Firmen vor, um das Land wiederaufzubauen.
„Wir sind uns der Herausforderungen und Risiken bewusst, die mit Investitionen in der Ukraine während des Krieges verbunden sind“, sagte der stellvertretende Wirtschaftsminister Volodymyr Kuzyo. „Deshalb unterstützen wir gemeinsam mit unseren Partnern die Investoren durch wirksame Maßnahmen und Anreize“, so das Regierungsmitglied. Dazu zählten unterschiedliche Garantie wie Kriegsrisikoversicherungen oder gezielte staatliche Unterstützungsprogramme.
Wie sich die Autobranche in der Ukraine entwickelt
Davon kann auch die Autoindustrie im Land profitieren. Grundsätzlich ist es nicht einfach, den aktuellen Zustand der Branche zu ermitteln, weil dieser Wirtschaftszweig als strategisch wichtig gilt. Denn aufgrund des Krieges halten sich die Akteure mit Informationen zurück. Keiner will dem Gegner Russland möglicherweise nützliche Hinweise geben.
Darüber hinaus hält sich derzeit die Regierung mit offiziellen Statistiken zurück. Die Ukrainian Motor Vehicle Manufacturers Association (UMVMA) berichtet auf ihrer Webseite lediglich in einem historischen Überblick, dass im Jahr 2007 der Höchststand der Produktion einmal bei rund 400.000 Fahrzeugen pro Jahr gelegen habe. Zusätzlich finden sich keine klaren Quellen, die die Entwicklung der Branche in den Folgejahren beschreiben. Sicher ist nur, dass die Produktionszahlen danach wesentlich weniger gewesen sein müssen.
Doch selbst dieser Höchstwert ist im Vergleich zu den Nachbarländern wenig beeindruckend: Denn Polen stellt mehr als 600.000 und Ungarn rund 500.000 Wagen her. So war die Ukraine eigentlich nie ein richtig starker Standort für die Branche, um fertige Fahrzeuge weltweit zu exportieren. Die Autos, die ausländische Hersteller wie Škoda, Hyundai oder JAC Motors hier bauen lassen, sind eher für den Binnenmarkt oder für die östlichen Nachbarländer interessant. Der Absatzmarkt ist derzeit vorhanden. Allerdings befindet er sich auf einem Drittel des Vorkriegsniveaus. Es dominiert der Import von Gebrauchtwagen.
Wieso eine Investition ein gefährliches und gewagtes Projekt bleibt
„Die Ukraine ist aber seit geraumer Zeit ein wichtiger Standort für Kfz-Zulieferer“, nennt Michał Woźniak,“ der Korrespondent der deutschen Wirtschaftsförderungsgesellschaft GTAI, einen anderen wichtigen Aspekt. „Da für diese oftmals finanzielle Anreize und das Kostenniveau entscheidende Faktoren sind, bleibt das Land attraktiv“, erklärt der Experte auf Anfrage. „Wobei hier neben dem Kriegsrisiko auch die Logistikhürden zu rechnen sind“, so der Fachmann, der auf die Grenzblockaden zu Polen durch die polnischen Bauern um die Jahreswende anspielte.
Doch ist der Krieg nach wie vor das größte Problem. Weiterhin besteht jederzeit die Gefahr, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verletzt werden oder gar umkommen. Darüber hinaus können die Produktionsanlagen immer durch Granaten zerstört oder die Energieversorgung durch Beschuss unterbrochen werden. Auch hier belastet der Mitarbeiter- und Fachkräftemangel die Unternehmen. In der Ukraine kommt noch hinzu, dass viele Männer in die Armee eingezogen werden. Anfangs haben die Firmen dies mit Wohlwollen betrachtet, wohl auch aus patriotischer Überzeugung. Doch mittlerweile bewerten sie dies mitunter anders, weil sie einfach Mitarbeiter brauchen.
„Ja, es herrscht Krieg“, beschreibt Maria Iwaniuk im Gespräch mit Automobil Produktion die Lage. „Doch funktionieren die Menschen normal weiter“, sagt die Geschäftsfrau, die ein Transportunternehmen führt, das auch schwere Ladung befördert. „Die Krankenhäuser versorgen weiter die Patienten, und die Fabriken produzieren ihre Waren“, fügte Iwaniuk hinzu, die zwischen Polen und der Ukraine hin- und herpendelt. Das Ende des Krieges ist für sie nur schwer vorhersehbar, es könne noch Jahre dauern.
Dieser schwierigen Lage ist sich auch Leoni-Sprecher le Claire sehr wohl bewusst: „Die Grundvoraussetzung für die Produktion in der Ukraine wird immer die Sicherheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort sein. Sollte es die Risikolage eines Tages nicht mehr zulassen, müssen wir neu entscheiden. Wir unterstützen die Ukraine, so lange es geht.“