Chery-Entwicklungszentrum in Raunheim / Darum entwickeln Chery und Geely in Deutschland

Im Entwicklungszentrum Raunheim erhalten die Fahrzeuge von Geely und Chery nicht nur den letzten Schliff für den hiesigen Markt. Längst sitzen die europäischen Standorte bei der Fahrzeugentwicklung von Anfang an mit am Tisch. (Bild: Chery)

Wenn Jochen Tüting aus den Fenstern seiner Büroetage schaut, kann der ehemalige Ford-Manager förmlich sehen, wie sich die automobile Landschaft gerade verändert. Denn in der einen Richtung liegt das Stammwerk von Opel, einem der europäischen PS-Dinosaurier, der nächstes Jahr den 125. Geburtstag des Automobilbaus feiert. In der anderen Richtung geht es zum europäischen Entwicklungszentrum von Hyundai und Kia, die sich in mehr als 30 Jahren vom Newcomer zum Stammspieler hochgearbeitet haben. Und nebenan hat Geely kurz vor der Pandemie für die britische Tochter das Lotus Tech Innovation Center aus dem Boden gestampft, das wie eine zum Hochhaus gewachsene Doppel-Helix alle anderen Gebäude in diesem Gewerbegebiet überragt. Und mittendrin herrscht Tüting in der obersten Etage eines Backsteinbaus als Chef von Chery Europe über ein eigenes Team von Designern und Entwicklern, die den Wandel vorantreiben. 

Chery und Geely suchen mit Hochdruck Personal

Genau wie die Großräume Stuttgart, München, Wolfsburg und Köln hat längst auch das Rhein-Main-Gebiet einen dicken Eintrag auf der automobilen Landkarte und Chery und Geely sorgen in Raunheim dafür, dass das auch so bleibt: Während bei Opel erst mit PSA und dann mit Stellantis ein Brain-Drain eingesetzt hat, suchen Tüting und sein Lotus-Pendant im Rundbau gegenüber händeringend Personal. Man wolle auf 200 Leute aufstocken, sagt Serino Angellotti aus dem Lotus-Management und Tüting würde seinen Stamm von knapp 50 Mitarbeitern lieber heute als morgen verdoppeln. 

Das sind die Modellpläne von Chery

Chery Omoda 5
Der Omoda 5 bildet die Speerspitze von Cherys Europa-Plänen. (Bild: Chery)

Ab 2024 möchte Chery seine Autos auch hierzulande verkaufen. Gleich drei Marken und mindestens sechs Modelle vom Verbrenner bis zum reinen E-Auto sollen die hiesigen Märkte erobern. Losgehen soll die Modelloffensive im Frühjahr mit der designorientierten Marke Omoda, die mit einem 4,40 Meter langen SUV namens Omoda 5 (im Bild) startet. Das Modell kommt zunächst mit einem 180 PS starken Benziner, später soll eine E-Variante sowie der Omoda 7 folgen. Parallel baut Chery die Marke Jaecoo auf, die dieselben Plattformen nutzen soll.

 

Ende 2024 oder Anfang 2025 soll dann noch die rein elektrische Premiummarke Exlantix starten, die gegen Marken wie Nio & Co antritt. Für sie gibt es zunächst die Limousine E03 und ein SUV namens E0Y in der Fünf-Meter-Klasse, die mit 800-Volt-Technik für besonders schnelles Laden und 80-kWh-Batterien für mehr als 600 Kilometer Reichweite sorgen sollen. (dpa)

Aus gutem Grund. Lotus steckt mitten in der größten Produktoffensive der Geschichte, hat gerade das erste elektrische SUV eines Sportwagenherstellers gelauncht, den Panamera-Konkurrenten Emeya vorgestellt und einen weiteren Geländewagen mit E-Antrieb in petto, mit dem die von China geretteten Briten auf sechsstellige Stückzahlen kommen wollen. Und Chery, immerhin Exportmeister unter den Chinesen, nimmt nach bald 80 Schwellenländern nun Europa ins Visier und will in den nächsten 24 Monaten gleich drei Marken mit mindestens neun Modellen einführen – ganz gegen den Trend zu mehr als der Hälfte noch konventionell motorisiert.

Wie bereiten sich die Chinesen auf den europäischen Markt vor?

Natürlich zählen hier wie dort die Homologation und Zertifizierung sowie das Feintuning der Fahrzeuge für europäische Straßenverhältnisse und Geschwindigkeiten zum Tagesgeschäft. Doch betreiben sie in Raunheim viel mehr als Nachsorge. Bei Lotus zum Beispiel haben sie auch ein Labor für HMI und arbeiten an den besten Bediensystemen für morgen, und bei Chery hat Tüting ein Advanced Design Center etabliert, das auch für China die Stilrichtung der nächsten Jahre vorgibt. 

Vor allem aber sitzt sein Team bei jedem Modell mittlerweile von der ersten Stunde mit am Tisch und sorgt dafür, dass die europäischen Eigenschaften und Anforderungen von Beginn an berücksichtigt sind und nicht später entsprechend geändert werden müssen. „Wir wollen Autos für die Welt und nicht für China“, sagt Tüting und freut sich, dass das bereits beim elektrischen Omoda 5 gelungen ist, der für nächstes Jahr als zweites Modell auf dem Kalender steht.  

Ganz nebenbei hat Tüting anders als seine Lotus-Kollegen in Sichtweite noch einen weiteren Job. Als Chef von Chery Europe ist er der oberste Verkäufer der Chinesen und muss bis zum Verkaufstart in den großen Märkten eigene Vertriebsorganisationen aufbauen und in den kleinen die richtigen Importeure suchen. Denn anders als manche chinesischen Newcomer will sich Chery an bewährte Strukturen und an ein konventionelles Händlernetz halten: „Die Zeiten sind unruhig genug, als dass wir den Käufern auch hier noch eine Umstellung zumuten wollen“, gibt der Neueinsteiger den Bewahrer. 

Wieso entwickeln Chery und Geely in Deutschland?

Lotus oder Omoda, Geely oder Chery - dass die neuen Chinesen ausgerechnet in Deutschland das Laufen lernen, hat gleich mehrere Gründe. Natürlich ist da zum einen die Autobahn mit ihren unbeschränkten Geschwindigkeiten, sagt Lotus-Mann Angellotti: „Wenn wir uns mit den deutschen Premiummarken messen wollen, dann müssen wir uns auch auf deren Straßen bewegen.“ Und auch die Nähe zum Nürburgring als Urmeter so vieler Prototypen sei nicht zu verachten, genauso wenig wie die Landstraßen drum herum. „In einem Umkreis von wenigen hundert Kilometern finden wir hier die besten Teststrecken, die man sich denken kann“, sagt Angellotti.“

Aber es geht Angellotti und Tüting und auch um die Nähe zu den großen Zulieferern, die mehrheitlich aus Deutschland kommen. „Wenn wir mit denen zusammenarbeiten wollen, dann helfen kurze Wege enorm."  Und dann ist da noch die Sache mit den Talenten und den Nachwuchskräften: Ja, hier wie dort haben sie sehr internationale Teams und auf dem Fluren hört man einen Kauderwelsch aus einem Dutzend Sprachen. Aber wenn es um Neuanwerbungen geht, sei der Pool an Kandidaten nirgends größer als in Deutschland, lobt Angellotti die Nachwuchslage. 

Das ist auch der Grund, weshalb Tüting nicht dem Trend gefolgt ist und sein R&D-Center wie so viele andere Chinesen in München angesiedelt hat. Nicht, dass er Bayern nicht mögen würde. Aber in Raunheim kommt ihm die Nachbarschaft entgegen: Während man an der Isar mit BMW konkurrieren müsste und wahrscheinlich öfter den Kürzeren ziehen würde, habe man am Main kräftig von den Umstrukturierungen bei Opel profitiert, sagt Tüting. Denn für viele Abgänger in Rüsselsheim werden die beiden Chinesen in Raunheim so plötzlich zur attraktiven Alternative. Und das ganz ohne Wohnortwechsel. 

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