Smart #1

Mit dem Smart #1 setzt der Hersteller eher auf innere als auf äußere Werte. (Bild: Smart)

Smart erfindet sich neu. Mal wieder! Diesmal durch den rigorosen Abschied von der Microcar-Marke, die einer Idee des Schweizer Uhrenherstellers Thomas Hajek entsprang, von Mercedes-Benz entwickelt und vor 25 Jahren mit einem neuartigen Zweisitzer im Markt eingeführt wurde. Zwar erntete der originelle Winzling mit völlig eigenständiger Technik Sympathie und schweißte eine überzeugte Klientel zusammen. Doch diese blieb überschaubar und vermochte die Marke nicht aus den roten Zahlen zu führen. Es folgten technische Synergien mit Renault, ein Viersitzer kam hinzu, schließlich stellte man auf Elektroantrieb um. Dann erwarb Geely Mehrheitseigner Li Shufu rund zehn Prozent Daimler-Aktienanteile.

Seit wenigen Monaten trägt der zwar als private Investition deklarierte, aber in Fachkreisen niemals ernsthaft als solcher betrachtete Deal erste strategische Früchte: Die Marke Smart fiel zu 50 Prozent in die Hände von Geely, zog nach Hangzhou in die Nähe des chinesischen Headquarters und verkauft seit dem 23. September 2022 den komplett neuen Smart #1. Er basiert auf der Geely SEA-Plattform (Sustainable Experience Architecture) mit batterie-elektrischem Antrieb, die ebenfalls von der in Geely-Besitz befindlichen Volvo-Tochter Polestar sowie Zeekr genutzt wird. Alle Stromer auf dieser Plattform produziert Geely in China.

Modellpflege ohne Ecken und Kanten

Wir sind im Stadtverkehr von Hangzhou unterwegs, doch der neue Smart #1 fällt nicht sonderlich auf. Erstens, weil sich kompakte SUV auch in China zunehmend vermehren und inzwischen zum Stadtbild zählen, und zweitens, weil der neue Smart keine Ecken und Kanten besitzt, an die sich das Auge klammern könnte. Anders als die großen Schlitten werden die kompakten SUV-Geschwister nicht als Chauffeurfahrzeuge genutzt, sondern von jungen Familien. Nicht selten reisen in China sechs Personen im 5-Sitzer SUV. Und auffällig oft sitzen Frauen am Lenkrad. Tatsächlich bestätigt Mandy Zhang, dass auch der #1 insbesondere junge weibliche Kunden zwischen 30 und 35 Jahren ansprechen soll. Zhang modelliert als Vice President of Global Sales, Marketing and After Sales der Smart Automobile Co., Ltd. in Hangzhou das neue Gesicht der Marke Smart, während das Design des #1 bei Mercedes in Sindelfingen entstand. Im Gespräch mit der Managerin wird klar: Die Marke möchte ihre Eigenständigkeit unter starker Berücksichtigung von Ansprüchen neuer chinesischer Kunden weiterpflegen. Ein Spagat, der mehr verlangt als ein Elektromobil von der Stange.

Smart möchte mit inneren Werten punkten

Auf 4,27 Meter Länge fährt ein Kompakt-SUV mit weichen femininen Zügen vor und signalisiert: Smart baut kein pfiffiges Microcar mehr, eher ein vom Zeitgeist geprägtes Kleinfamilienauto fürs Marktsegment des BMW Mini Countryman, dessen innere Werte einen Hauch von Mercedes versprühen sollen. Mandy Zhang wagt sogar Vergleiche zur S-Klasse und zielt damit auf die wertigen Materialien gepaart mit 64-fach konfigurierbarem Licht-Ambiente unterm ohnehin schon viel Licht spendenden riesigen Sonnendach ab. In der Tat mutet das Interieur wesentlich hochwertiger an als das des elektrischen Mini oder ID.4. Auch das Platzangebot über der Elektro-Plattform mit langem Radstand beeindruckt, der Armaturenträger wirkt mit zierlichem 9,2-Zoll-Display hinterm Lenkrad (für Reichweite, Ladezustand, Tacho) und stattlichem 12,8-Zoll-Zentral-Tablett aufgeräumt. Die Verknappung mechanischer Schalter folgt dem Vorbild anderer chinesischer Elektrofahrzeuge, die Tesla nachahmen. Eine Strategie, die auch Volkswagen in seinen I.D. Modelle übernommen hat. Nahezu alle Konfigurationen einschließlich der Fahrprogramme müssen am Touchscreen aufgerufen und über Lenkradtasten justiert werden. Das mag umständlich sein und vom Fahren ablenken, scheint die Smartphone-Generation insbesondere in China aber nicht zu stören.

Infotainment Smart #1
Die wichtigsten Informationen erhalten Fahrer des Smart #1 auf zwei zentralen Bildschirmen. (Bild: Smart)

Unterwegs in der Brabus-Version des Smart #1 mit stolzen 428 PS, die zwei permanent angeregte E-Motoren an Vorder- und Hinterachse liefern, geht’s zügig voran. In 3,9 Sekunden sprintet man aus dem Stand auf 100 km/h. Wenn 543 Newtonmeter Drehmoment unmittelbar zupacken, sollten die Hände das Lenkrad fest umklammern. Der enorme Schub dieses 1,9-Tonners ist zweifellos seine überzeugendste Qualität. Dafür müssen mindestens 48.990 Euro hingeblättert werden. Die Einstiegsvariante #1 Pro mit nur einem E-Motor, der 272 PS leistet, ist ab 41.490 Euro zu haben.

Dass beim häufigen Auskosten der in dieser Fahrzeugklasse einzigartigen Schubkraft des #1 Brabus die versprochene Reichweite von bis zu 400 km mit einer Batterieladung nicht erzielt werden kann, versteht sich von selbst.  Doch er sollte überwiegend von Stadtmenschen bewegt werden, die auf eine gute Ladeinfrastruktur zählen dürfen. Der 66 kWh starke Akku kann bis zu 150 kW ziehen, was im Idealfall zum Nachladen von 10 auf 80 Prozent seiner Kapazität 30 Minuten dauert.

Community-Aspekt soll Kunden binden

Wenngleich das Mercedes-Designteam um Gorden Wagener mit der farbig abgesetzten Dachpartie des #1 und der im Profil sichtbaren, nach hinten aufsteigenden Signatur Akzente gesetzt hat: Die Eigenständigkeit eines BMW Mini besitzt der neue Kompakt-SUV nicht. Deshalb dürfte eine erfolgreiche Neupositionierung der Marke allein über Produkteigenschaften nicht gelingen.

Das scheint auch Mandy Zhang zu wissen. Deshalb werde Smart eine Vorliebe junger Chinesen pflegen: Die Liebe zur Community-Bildung, ein Identität stiftendes Alltagsphänomen der chinesischen Gesellschaft. Bereits während der Schulzeit schließen sich Chinesen in Zimmer-Communities zusammen, später mit Wohnungsnachbarn zu Compound-Communities. Auch in Berufsleben und Freizeit sind sie physisch und virtuell in unzähligen Interessengruppen unterwegs, gestützt auf soziale Netzwerke. In keinem anderen Land der Welt beherrscht eine derart ausgeprägte Chatgruppenkultur den menschlichen Alltag.

Längst nutzen Marketingabteilungen der Autofirmen diesen Mitteilungsdruck junger Chinesen. Beispielsweise veranstaltet Nio jährliche Treffen zur Selbstdarstellung von Marke und Kunden gleichermaßen - zuletzt am 24. Dezember 2022 in Hangzhou. Rund 4.500 Gäste bekamen über ein Losverfahren Zugang zur Arena, in der Firmengründer William Li nach dem Vorbild von Steve Jobs und Elon Musk neue Produkte vorstellte. Zwischendurch wurde das Publikum mit Musikeinlagen und Videoclips kreativer Nio-Kunden bespaßt. Auf einer riesigen Freifläche demonstrierten Community-Mitglieder ihre Kreativität. Gestützt auf den regen Chat-Verkehr seiner Fans untereinander verkauft Nio mittlerweile mehr Autos über Community-Propaganda als durch direkte Kundenansprache. Der heiße Wunsch von Chinesen, zu Marken-Familien zu gehören, mag Kritikern zwanghaft erscheinen und an die Gläubigkeit von Apple- und Tesla-Fans erinnern. Tatsächlich ist die Eigenart im 1,4-Milliarden-Volk Chinas aber nochmals deutlicher ausgeprägt, weil sie eine starke Identität in dem von Konformität geprägten gesellschaftlichen Umfeld stiftet. Und sie treibt die Verkaufszahlen in die Höhe.

Auf diesen Zug werde auch Smart aufspringen, kündigt Marketing-Chefin Mandy Zhang an. Schon in wenigen Monaten, zum 25. Markenjubiläum geht’s los. Ob eine solche Verkaufsförderung auch in Europa Früchte tragen könnte, bleibt fraglich. Unter anderem, weil dem #1 jener kultige Charakter fehlt, der hierzulande Interessengruppen zusammen zu schweißen vermag.

Noch ein anderes landesspezifisches Phänomen spielt Mandy Zhang bei der Neupositionierung von Smart in die Hände: Elektromobile überzeugen junge Chinesen weniger mit guten Handlingeigenschaften als mit verspielten Gadgets, wie Kommunikationsrobotern, Karaoke-Programmen und Spielen zum Sammeln von Belohnungspunkten unterwegs, die später gegen Hardware eingelöst oder in Foren getauscht werden können. Den #1 kann man gegen Bezahlung spielend leicht an Mitmenschen verleihen. Über eine Community-App wird dafür nur ein Zugangscode verschickt. Er ersetzt den Schlüssel.

So verlieren historisch gewachsene Markenqualitäten aus Übersee in den Augen junger Chinesen zunehmend an Bedeutung. Darauf setzen die neuen Smart-Macher ab Mitte 2023 auch mit dem zweiten Modell, einem SUV-Coupé auf gleicher technischer Basis - als Smart #2 für eine Community mit etwas sportlicherem Selbstverständnis. Bleibt abzuwarten, wie identitätsstiftend das rasch wachsende Angebot neuer „Smart by Geely“ empfunden wird, um eine größere Fan-Gemeinde zusammen zu schweißen, als es einst dem Zweitürer gelang.

Sie möchten gerne weiterlesen?