Timo Gilgen, Redakteur der „Automobil Produktion“, im Interview mit Michael Friess, Standortverantwortlicher und Leiter der Produktion des Mercedes-Benz Werks Bremen. Gilgen sitzt links in grüner Cordjacke auf einem grauen Sofa, Friess rechts gegenüber in einem Ledersessel, bekleidet mit beiger Hose und schwarzem Oberteil mit Mercedes-Benz-Logo. Im Hintergrund ein großformatiges Kunstwerk mit Rennwagenszene. Auf dem Glastisch vor ihnen stehen ein Glas Wasser, eine Tasse Kaffee und ein Smartphone.

Michael Frieß ist seit März 2020 Standortverantwortlicher und Leiter der Produktion des Mercedes-Benz Werkes Bremen. (Bild: Mercedes-Benz)

Automobil Produktion Kongress 2025

Automobil Produktion Kongress 2025

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Herr Frieß, in rund einem Jahr, Anfang 2026, läuft das nächste neue Modell in Bremen an. Was kommt da an Arbeit auf Sie als Werkleiter konkret zu?

Hinter einem Modellanlauf steckt immer ein gewisser Aufwand, damit alles reibungslos läuft, doch als Team lässt sich das gut managen. In Bremen haben wir eine hohe Kompetenz im Anlauf. In den letzten vier Jahren liefen bei uns zehn Fahrzeuge an – unsere Modellpalette hat sich seit 2020 erneuert. Dadurch sind wir erfahren und wissen, wie es geht. Zudem haben wir eine Rolle als Kompetenzzentrum für das Core Segment. Im Vorfeld bereiten wir die Fahrzeuge zusammen mit unseren Partnern aus Entwicklung, Planung und der Anlauffabrik „Factory One“ so vor, dass sie produzierbar sind.

Wie genau gestaltet sich die Umrüstung des Werks?

Unser Werk muss vorbereitet werden – es finden Umbauten statt und neue Anlagen werden integriert. Wir haben unter anderem die Produktionsruhe über den Jahreswechsel dafür genutzt. Auch die Qualifizierung des Teams ist wichtig: Die Werkerinnen und Werker besuchen dazu unser Schulungszentrum, in dem sie das Neue am Fahrzeug kennenlernen. Der vollelektrische GLC wird in unser Werk kommen. Da wir hier bereits den EQE bauen, ist es für uns nicht so ein großer Schritt wie damals, als der EQC als erstes vollelektrisches Modell von Mercedes-Benz bei uns vom Band lief.

Was war damals anders?

Als der EQC kam, war beispielsweise das Thema „Hochvolt“ ganz zentral. Es gab eine Hochvolt- Grundlagenschulung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowie Schulungen zur Behandlung von Fahrzeugen und Kabeln. Zudem gibt es strikte Regeln, wann das Fahrzeug scharf geschaltet wird und wie dann weiter verfahren wird. Das waren neue Prozesse, die in den Arbeitsalltag integriert wurden.

Produktionszahlen Mercedes-Benz 2023 und 2024
Produktionszahlen Mercedes-Benz 2023 und 2024

Als Sie in Bremen starteten, begann zeitgleich die Pandemie. Wie würden Sie die Zeit der Lockdowns mit den anschließenden Problemen, dem Halbleitermangel und äußeren Einflüssen wie dem Ukraine-Krieg bis heute beschreiben?

Die Corona-Phase war in der Tat eine ganz besondere Zeit. Interessant war, dass man mit vielen Menschen und Parteien gemeinsam einen Weg finden musste. Diese Phase war herausfordernd und erforderte viel Flexibilität sowie Entscheidungsfähigkeit. Wenn ich auf die Zeit zurückblicke, bin ich besonders stolz, dass wir das gemeinsam mit dem Betriebsrat so gut gemeistert haben. Grundsätzlich benötigt man viel Energie und Zusammenhalt, um schnell auf plötzliche Veränderungen zu reagieren. Als Standort haben wir in der Zeit zusammengestanden und die jeweiligen Herausforderungen angenommen und immer eine Lösung gefunden.

Zitat

Das ist eine Auszeichnung für unser Team und unsere Fähigkeiten.

Michael Frieß über die Entscheidung, in Bremen den SL Maybach bauen zu dürfen.
Michael Frieß, Standortverantwortlicher und Leiter der Produktion im Mercedes-Benz Werk Bremen, führt Redakteur Timo Gilgen („Automobil Produktion“) durch die Produktionshalle. Beide tragen wetterfeste Jacken; Frieß erklärt gestikulierend einen Abschnitt der Fertigungslinie, während Gilgen aufmerksam zuhört. Im Hintergrund sind teilweise montierte Fahrzeuge an der Montagelinie sowie moderne Produktionsanlagen und Fördertechnik zu sehen.
Michael Frieß zeigte uns sein Werk höchstselbst. (Bild: Mercedes-Benz)

Wie kam es dazu, dass Bremen inzwischen sogar einen Maybach baut und was bedeutet das für den Standort bzw. für Sie als Werkleiter?

Vorab: Wir haben zehn verschiedene Produkte am Standort, davon werden sieben ausschließlich in Bremen gefertigt. Der Maybach ist einer davon – ebenso wie der Mercedes- AMG SL, der Grundtyp des Mercedes-Maybach SL. Bei Fahrzeugen überzeugt das Bremer Team Public durch eine gute Visitenkarte. Für mich ist es wichtig, stets referenzieren zu können, dass wir unsere Ziele, Produktionszahlen und Qualitätsstandards erreichen, und die Kundinnen und Kunden zufriedenstellen. Der erste wichtige Schritt war der SL. Wenn von einem Fahrzeug auch ein Maybach entwickelt wird, liegt es nahe, dies am gleichen Standort zu tun. Das ist eine Auszeichnung für unser Team und unsere Fähigkeiten.

Können sich die Mitarbeiter auf eine Stelle in der Maybach-Produktion bewerben?

Wir haben eine Kultur, in der Personalwechsel zwischen den Hallen normal sind. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wechseln auch noch nach 20, 30 oder 40 Jahren die Halle – das ist nicht selbstverständlich. Wenn in einer Halle Personalbedarf besteht, dann fragen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ob sie woanders eingesetzt werden möchten. Bei vielen Interessenten erfolgt dann ein Auswahlprozess. So ermöglichen wir Wechsel. Das SL-Team verfügt über langjährige Expertise, da wir seit 1989 den SL hier in Bremen bauen.

Es gibt viele Werke, die viele verschiedene Modelle herstellen, aber solch extreme Produktvielfalt wie hier in Bremen ist speziell, oder?

Ja, absolut. Wir haben im Nordwerk zwei große Fertigungslinien – Halle 9 und Halle 93 – die unser Hauptvolumen produzieren. SL, GT und Maybach profitieren von einer über 35-jährigen Tradition des SL.

Spielen Themen wie Digitalisierung, Smart Factory und Effizienz in der Kleinserienfertigung überhaupt eine Rolle?

Wir achten in all unseren Produktionshallen auf Effizienz. Dabei hat uns auch maßgeblich die Einführung unseres digitalen Ökosystems MO360 geholfen. Applikationen, wie zum Beispiel „QUALITY LIVE“, helfen uns dabei, die Fertigung eines Fahrzeugs in Echtzeit zu überprüfen. Dabei greift die MO360 Applikation auf sämtliche Daten zurück, die im Produktionsprozess erfasst werden. Für uns ist es wichtig, den hohen Ansprüchen unserer Kunden gerecht zu werden und für jeden das richtige Fahrzeug zu bauen.

In Bremen vereinen Sie die Produktion von Verbrennern und BEV. Sehen Sie dennoch Vorteile eines Werks, das ausschließlich E-Autos baut?

Eine reine Elektrofertigung ist nicht unser Ziel. Die Produktion im globalen Produktionsnetzwerk ist antriebsflexibel aufgestellt. Bei uns rollen Elektrofahrzeuge vom gleichen Band wie Hybride und Fahrzeuge mit konventionellen Antrieben – und wir sind es gewohnt, mit hoher Varianz umzugehen. Unsere Mechanismen und Methoden sorgen dafür, dass wir trotz unterschiedlicher Arbeitsinhalte effizient und hochflexibel arbeiten.

Spüren Sie bereits, dass KI in Ihrem Werk eine immer größere Rolle spielen wird?

Auf jeden Fall. Für uns ist KI eine wegweisende Technologie und Chance, um noch bessere Fahrzeuge zu bauen. Auch in Hinblick auf die Mitarbeitenden hilft KI, sie entlastet und macht uns wettbewerbsfähiger. Neben allen anderen Aufbauwerken testen wir auch hier in Bremen beispielsweise KI Chatbots in der Produktion und machen uns dafür unser digitales Ökosystem MO360 zu nutze.

Kommen die Ideen dann von den Mitarbeitern selbst? Und wie sieht es mit der Angst aus, dass der Arbeitsplatz durch KI ersetzt wird?

Unsere Kultur der kontinuierlichen Verbesserung existiert schon lange. Die Mitarbeitenden sind bereit, ihre Ideen zu teilen, weil sie oft zu echten Erleichterungen im Arbeitsalltag führen. Viele sind technisch affin – manche nutzen 3D-Druck, um Prototypen zu erstellen. Dadurch können wir schneller reagieren und unsere Innovationsfähigkeit am Standort Bremen stärken. Unsere Innovationskraft und die Bereitschaft, Neues zu machen, zeichnen Bremen aus. Wir kombinieren Flexibilität und Effizienz – das ist der beste Kompromiss zwischen Automatisierung und Handarbeit. Ein Beispiel: Der Aggregatträger wird mechanisch gehoben, aber die Mitarbeiter setzen am Ende noch mit ihrer Handkraft die letzten Feinjustierungen um. Das ist die optimale Kombination.

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Für mich ist es essenziell, Entscheidungen so schnell wie möglich zu treffen.

Michael Frieß

Wie würden Sie Ihren persönlichen Führungsstil beschreiben? Was ist Ihnen im Umgang mit den Mitarbeitern wichtig?

Eigentlich sollte diese Antwort anderen überlassen werden …. Meinem Eindruck nach bin ich authentisch und stets ansprechbar – was mir auch bestätigt wird. Zwar steht nicht ständig jemand in meinem Büro, aber ich erhalte viele direkte Anfragen per E-Mail oder persönlich, denen ich gerne nachkomme. Es gibt Kamingespräche mit Teamleiterinnen und Teamleitern, Meistern sowie Mitarbeitenden in Gruppen von 15 bis 30 Personen, in denen wir in der Regel anderthalb Stunden diskutieren. Diese Gespräche liefern immer wertvolles Feedback.

Welche Fähigkeit ist Ihrer Ansicht nach am wichtigsten als Werkleiter?

Das Entscheidende in der Führung ist, schnell Entscheidungen zu treffen. Wenn Unklarheit herrscht oder keine Einigkeit erzielt wird, benötigt man eine Führungskraft oder ein Führungsteam, das entscheidet. Für mich ist es essenziell, Entscheidungen so schnell wie möglich zu treffen, aber nachdem ich zugehört und verstanden habe, worum es geht.

Wie gestaltet sich der Austausch zwischen den Werken und Werkleitern im weltweiten Mercedes-Produktionsnetz? Gibt es Unterschiede im deutschsprachigen Raum oder hat der Standort keinen Einfluss?

Der Bereich von Michael Bauer, Leiter der Produktion Mercedes-Benz Cars, vereint alle europäischen, US-amerikanischen und südafrikanischen Werke. Somit sind fast alle Pkw-Aufbauwerke in einer Hand. Wir pflegen einen sehr engen Austausch, um schnell voneinander zu lernen und gemeinsam voranzukommen. Diese Unterstützung erlebe ich als sehr kollegial und hilfreich.

Wie würden Sie das digitale Produktionssystem MO360 beschreiben und welchen konkreten Mehrwert hat es für Sie in Bremen?

Eine gute Produktion braucht ein Produktionssystem, das Klarheit in die Entscheidungshierarchie bringt. Digital unterstützt es uns, indem Daten sofort verfügbar sind – das ist effizienter als früher, als wir per Hand Zahlen in Boards eintrugen. Diese Transparenz macht uns schneller. Ein Beispiel ist der Umgang mit Klebstoffdaten: Früher wurde abgelaufener Kleber entsorgt, heute werden die Daten zusammengeführt, um Einsparungen zu erzielen. Dieses System auf Basis von MO360, sorgt dafür, dass Daten sauber verwaltet und für weitere Optimierungen genutzt werden. Anfangs verstand ich den Begriff „Datensee“ nicht, doch im Austausch mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen lernte ich viel darüber. Heute bin ich ein Fan, weil die digitale Datenwelt völlig neue Möglichkeiten eröffnet.

Thema Logistik und Lieferantennetzwerk: Was erhoffen Sie sich von Catena-X? Ist das Thema bereits ein fester Bestandteil Ihres Alltags?

Bei mir persönlich ist das noch nicht direkt Alltag, bei unseren Logistikkolleginnen und -kollegen jedoch schon. Ähnlich wie bei Qualitäts- und Verbrauchsdaten wird die Logistik von einheitlichen, digitalen Datenbanken stark profitieren. Wir schaffen dadurch eine maximale Transparenz: Bei kompatiblen Systemen können die Logistiker vernetzt Lieferströme steuern, gemeinsam mit Lieferanten interagieren und auf Störungen in den Lieferketten reagieren. Das hat nachhaltige Bedeutung, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Können Sie Beispiele oder Use Cases nennen, bei denen hier etwas entwickelt und ausgerollt wurde oder etwas, das an anderen Standorten so nicht existiert?

Bei den digitalen Themen, wie etwa „QUALITY LIVE“, das mittlerweile an allen Standorten existiert, haben wir bei der Lackierung Innovationen etabliert – zum Beispiel das automatisierte Schleifen beim KTL, das es sonst nirgendwo gibt. Wir pilotieren auch die automatisierte Innenraumkontrolle mittels eines taktilen Roboters, den die Kollegen am Digital Factory Campus am Standort Berlin-Marienfelde gemeinsam mit uns erproben. Es gibt Vereinbarungen, wonach Ideen aus den verschiedenen Produktionsbereichen in Corporations (Assembly, Body, Paint) eingebracht und dann pilotiert werden. Wir rollen die Pilotprojekte zügig aus. Zudem waren wir bei den Grundfertigungsprozessen mit dem EQC die Ersten, die elektrische Fahrzeuge integriert haben.

Letzte Frage: Wie sorgen Sie dafür, dass die Mitarbeiter weiterhin einen sicheren Job haben, auch angesichts drohender Zölle? Was ist Ihr Ansatz, um den Mitarbeitern die Angst zu nehmen?

Die heutige, volatile Situation ist eine Herausforderung, doch in Bremen blicken wir auf eine sichere Zukunft. In den letzten Jahren ließen wir zehn neue Modelle anlaufen, von denen sieben ausschließlich in Bremen gefertigt werden. Dadurch besteht eine klare Perspektive. Außerdem gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Werks in Bremen die laufende Beschäftigungssicherung, die gerade bis Ende 2034 verlängert wurde. Aber natürlich müssen wir jeden Tag am Thema Wettbewerbsfähigkeit arbeiten – gerade hier in Deutschland.

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