Chinas OEMs haben im letzten Jahr über 26 Millionen Autos gebaut – und die müssen irgendwo hin. Zwar ist China mit einem Absatzvolumen von 30 Millionen Neuwagen nach wie vor der größte Automobilmarkt der Welt. Doch weil die Importeure noch immer knapp die Hälfte des Geschäfts machen und weil sie die Schwäche der westlichen Stammspieler wittert, sucht die Industrie im Reich der Mitte ihr Heil auch im Ausland – und hat es so beinahe über Nacht zum Exportweltmeister gebracht: Nachdem sie die USA, Südkorea und Deutschland bereits in den letzten Jahren überholt hat, verdrängte sie 2023 mit über vier Millionen Exporten auch noch Japan von der Spitze, melden die Analysten von UBS und sehen China weiter auf dem Vormarsch: Der globale Marktanteil der westlichen Hersteller werde bis 2030 von 81 auf 58 Prozent fallen, so deren Prognose.
Dieser Erfolg hat freilich viele Väter. Denn in keinem anderen Land gibt es so viele unabhängige Automobilhersteller wie in China – von den Branchengiganten der ersten Stunde wie FAW, Dongfeng oder SAIC über die Neugründungen aus der zweiten Welle der Mobilmachung wie Great Wall Motors oder Chery und die ersten Start-Ups wie BYD und Geely bis hin zu den jüngsten Newcomern wie Nio, Xpeng oder HiPhi, die noch in ihrem ersten Jahrzehnt stecken. Und als wäre das noch nicht genug, operieren die allermeisten davon mit oftmals mehr als einem halben Dutzend Marken, sodass im Vergleich selbst Stellantis oder die VW-Gruppe übersichtlich erscheinen.
Die Stoßrichtung dieser Unternehmen ist so unterschiedlich wie ihre Historie: Je älter, desto konservativer ist die Strategie und desto konventioneller sind die Produkte. Sowohl Great Wall Motors als auch Chery setzen bei ihrer Expansion nach Europa deshalb zuallererst einmal auf klassische Fahrzeugarchitekturen, die allenfalls mit einem Hybrid- oder Plug-in-Hybriden elektrifiziert werden. Das gilt für die GWM-Marke Wey genauso wie für die Chery-Ableger Omoda und Jacoo, und die SAIC-Tochter MG verkauft eben nicht nur den voll elektrischen MG4, sondern setzt zumindest außerhalb Deutschland ebenfalls auf elektrifizierte Verbrenner.
Allerdings wissen auch die Großkonzerne aus dem chinesischen Mittelalter der Mobilisierung um den Trend zur E-Mobilität – und haben deshalb auch reine Elektro-Marken auf den Weg gebracht: Bei Great Wall Motors zielt Ora mit einem Kleinwagen und einer vom Porsche Panamera inspirierten Limousine auf die Generation E, Chery folgt dem Vorbild Tesla mit mindestens einer Limousine und einem SUV der Marke Exlantix. Weil MG offenbar vielen zu altmodisch erscheint, haben die Strategen bei SAIC auf dem Genfer Salon die neue Marke „IM“ gelauncht, die mit reinen Akku-Plattformen und allen Sensoren fürs autonome Fahren den Weg in die Zukunft weisen soll. Dabei plant IM gleich mit drei Modellen – einer Limousine im Stil des VW ID.7 und einem SUV im Format des Audi Q6 e-tron, das es mit aufrechtem Heck und als Coupe geben soll.
Nur Dongfeng, nach FAW der zweitälteste chinesische Autobauer, tanzt da aus der Reihe und lässt die alte Welt auf dem Weg nach Europa gleich hinter sich: Denn ihren Einstand geben die Chinesen mit der Premiummarke Voyah, die mit drei elektrischen Modellen in der gehobenen Mittelklasse bei uns antreten will: Dem Geländewagen Free, der Großraumlimousine Dream und dem Stufenheck Passion. Und dabei soll es – mal wieder – nicht bleiben. Denn auch Dongfeng setzt auf die Strahlkraft mehrerer Marken und hat unter dem Label „Nammi“ eine Flotte von Kleinwagen sowie als M Hero einen ebenso luxuriösen wie kolossalen Geländewagen im Stil der Mercedes G-Klasse angekündigt – mit einer Leistung von 1.000 PS und einer Batteriegröße von 146 kWh.
Diese vergleichsweise innovativen Marken konkurrieren dann zuallererst einmal mit den elektrischen Platzhirschen BYD und Marken wie Zeekr, Polestar, Lotus oder Smart aus der Geely-Gruppe und dann natürlich mit jüngeren Startups aus China – allen voran Nio und XPeng. Die haben zwar viel von sich Reden gemacht, mit attraktiven Modellen und bei Nio auch mit der Idee vom Batteriewechsel, der die Ladestopps auf gerade mal fünf Minuten verkürzt, oder mit den Nio Houses, die als Customer-Touchpoints in den besten Lagen der Metropolen noch wohnlicher und innovativer sind als die Tesla-Stores. Doch finanziell stehen sie alle noch auf wackligen Füßen: Beide gerade mal zehn Jahre alt, haben sie im letzten Jahr zum zweiten Mal in Folge ihre selbst gesteckten Verkaufsziele verfehlt und nur durch geschickte Partnerschaften eine Pleite vermeiden können: Nio hat sich 2,2 Milliarden Dollar aus Abu Dhabi besorgt und XPeng gibt die neue Partnerschaft mit dem VW-Konzern eine gewisse Sicherheit. Schließlich wollen die Niedersachsen mit Hilfe des Startups ihren elektrischen Fußabdruck in China vergrößern und so verlorenen Boden gegenüber BYD gutmachen.
Aber nicht alle haben so viel Rückhalt: Das Startup mit dem wenig bescheidenen Namen „Weltmeister“ hat im Oktober Bankrott erklärt, Evergrande strauchelt seit Jahren und auch bei HiPhi sieht es düster aus: Ambitioniert gestartet, ist der Newcomer mittlerweile in die Pleite geschlittert, die Produktion wurde angeblich gestoppt und im ersten deutschen Showroom am Flughafen München gehen die Lichter aus. Immerhin gibt es offenbar Verhandlungen mit Changan, die sich den Premium-Stromer einverleiben und so seine Zukunft sichern könnten.
Ebenfalls auf tönernen Füßen steht das 2017 gegründete Unternehmen Aiways, das in Deutschland bereits mit jetzt bald vier Jahren mit den elektrischen SUV U5 und U6 am Start ist. Denn im letzten Sommer mussten die Chinesen die Produktion im ostchinesischen Werk Shangrao aufgrund fehlender Mittel aussetzen. Im Frühjahr allerdings wurde bekannt, dass Aiways mit neuen Partnern verhandelt, die Fertigung wieder anlaufen lassen und unter neuer Führung zu einer reinen Exportmarke werden will. Ob das gelingt, ist allerdings noch offen.
Beispiele fürs Scheitern gibt es allerdings schon genug: Das von ehemaligen BMW-Managern propagierte Startup Byton zum Beispiel, das mit chinesischem Geld in den USA als Telsa-Herausforderer gegründete Unternehmen Faraday Future oder chinesischen Wiederbelebung der deutschen Traditionsmarke Borgward: Sie alle haben ein großes Strohfeuer entfacht, sind aber danach gescheitert und haben nicht viel mehr als verbrannte Erde hinterlassen. Von prä-elektrischen Pionieren wie Landwind und Brilliance ganz zu schweigen, deren katastrophale Crashresultate noch heute als Hypothek kollektiv auf den China-Marken lasten.
Während unter den chinesischen Automobilherstellern also längts eine Art Überlebenskampf tobt und sich in die Meldungen von Neugründungen immer öfter nach Nachrichten über Pleiten mischen, stehen die nächsten Wettberber schon auf der Matte: Mit Xiaomi, Baidu and Huawei drängen nun auch drei Tech-Giganten ins Autogeschäft und sind dabei offenbar optimistischer als Apple. Denn während der amerikanische Hightech-Riese seine automobilen Ambitionen gerade erst beerdigt hat, haben die drei chinesischen Konkurrenten allesamt ihre ersten Elektroautos enthüllt und ambitionierte Ziele ausgegeben. So will Xiaomi-Gründer Lei Jun seine Firma in 15 bis 20 Jahren auf Augenhöhe mit Porsche und Tesla bringen und vergisst dabei offenbar als direkten Rivalen auch den japanischen Großkonzern Sony, der über eine Kooperation mit Honda ebenfalls ins Automobilgeschäft drängt.
Dabei setzen die Tech-Giganten weniger auf Fahrleistungen und Batteriekapazitäten, sondern naturgemäß auf ihre elektronische Intelligenz. Deshalb beziehen sie die automobile Hardware oft auch von klassischen Herstellern wie Changan oder Chery – und haben damit nach Einschätzung vieler Experten gute Chancen. Denn während Teslas Full-Self Driving-Feature in China bis vor kurzem vor noch keine Lizenz hatte und die etablierten Hersteller beim autonomen Fahren vergleichsweise verhalten auftreten, könnten Xiaomi, Baidu und Huawei auf diesen Technologiefeldern in Führung gehen und sich so Marktanteile sichern.
Allerdings sind die Chinesen nicht nur als High-Tech-Konkurrenten eine große Gefahr für die Autohersteller aus der alten Welt. Sondern geschickt besetzen sie jetzt insbesondere in Europa offenbar auch Segmente, die westliche Hersteller notgedrungen aufgeben müssen, weil sie sich zunehmend auf Elektrofahrzeuge fokussieren und weil die gestiegenen gesetzlichen Anforderungen die Rendite ihrer konventionellen Modelle schmälert.
Das beste Beispiel dafür liefert MG mit der Premiere des MG3. Denn während Ford im letzten Jahr den Fiesta eingestellt hat, VW dicke Fragezeichen hinter den Polo setzt und die Europäer um die Entwicklung elektrischer Minis zu halbwegs bezahlbaren Preisen ringen, bringen die Chinesen erst als Hybrid und dann als reinen Verbrenner für später mal unter 20.000 Euro kurzerhand einen konventionellen Kleinwagen nach Europa, der die hohen Herren in Wolfsburg, Köln & Co Lügen straft und beweist, dass solche Autos auch unter den aktuellen Rahmenbedingungen noch eine Chance haben.